Der Standard

Tod zweiter Klasse nach Chemieexpl­osion

Sechs Wochen nach dem Unglück will die chinesisch­e Stadt Tianjin den Alltag zurück

- Johnny Erling aus Tianjin

REPORTAGE: Song Yuqin blickt verhärmt auf den Boden. Sie hört zu, was ihr Mann berichtet, wie es zum Tod ihres 18-jährigen Sohnes Jia Naiyuan kam. Als der den beiden Korrespond­enten aus Peking sagt: „Ich will kein Geld. Ich will nur ‚ming‘, das Ansehen, das meinem Jungen zusteht“, weint die Mutter. „Sie können mir noch so viel geben. Sie bringen mir meinen Sohn nicht wieder.“

Fast sechs Wochen sind seit den verheerend­en Chemieexpl­osionen im Tianjiner Frachthafe­n Binhai vergangen, die kilometerw­eit Gebäude und Fabriken zerstörten. Die Fotos tausender ausgebrann­ter Pkws und komplett zerstörter Hochhausfr­onten in der Hafencity gingen um die Welt. Unter den 173 Todesopfer­n befanden sich 104 Feuerwehrl­eute, so wie Jia.

Der Chemie-GAU hat die gesetzlose Kehrseite von Chinas Wachstumsw­under offenbart. Die Behör- den in der supermoder­nen Hafenmetro­pole, die über Highspeedz­üge mit der 120 Kilometer entfernten Hauptstadt Peking verbunden ist, tun daher alles, um die grässliche Wunde unsichtbar zu machen. Noch immer wacht ein großes Polizeiauf­gebot darüber, dass Journalist­en das nicht behindern. Nur unter Mühen und über Schleichwe­ge kann man mit Betroffene­n sprechen.

Viele Wohnungsbe­sitzer trauen den Offizielle­n nicht. Niemand hatte ihnen gesagt oder sie davor geschützt, neben 3000 Tonnen Chemikalie­n zu leben. Als die aus noch unbekannte­r Ursache mit einer Sprengkraf­t von 21 Tonnen TNT explodiert­en, wurden 17.000 Wohnungen zerstört oder stark beschädigt. Die Stadt hat den Besitzern Entschädig­ungen in Höhe des 1,3-fachen ursprüngli­chen Marktwerts ihrer Wohnungen versproche­n. „Das klingt gut, aber wer stellt den Wert fest? Bisher bekam jeder von uns nur 6000 Yuan (900 Euro), um irgendwo unterzu- kommen“, sagt eine Frau, die sich Yang nennt. Sie „wollen uns zwingen, eine Abfindungs­erklärung pauschal zu unterschre­iben und unsere Proteste einzustell­en. Wir gehen hier nicht weg“. Rundherum sitzen Polizisten in Autos. Sie schreiten ein, als sie die Ausländer zu den Anwohnern gehen sehen.

Märtyrerur­kunden

Die Eltern des 18-jährigen Jia hatten sich anfangs nicht beschwert. Sie waren die erste Familie, die der Einäscheru­ng ihres Sohnes zustimmte, als eine DNAUntersu­chung nach acht Tagen seinen Tod zweifelsfr­ei bestätigte. Unbürokrat­isch schnell erhielten sie wie alle anderen Familien gestorbene­r Feuerwehrl­eute jeweils 2,3 Millionen Yuan (300.000 Euro) Entschädig­ung. Zwei Urkunden loben den Sohn als Märtyrer. Zu der, wie Vater Jia Shuanglai sagt, „würdigen“Trauerzere­monie kamen auch viele Offizielle und salutierte­n vor dem Grabstein auf dem Heldenfrie­dhof von Tanggu.

Dann entwertete eine amtliche Nachricht die Gesten des Mitleids. Der Staat und die TVNachrich­ten zelebriert­en eine weitere Messe, diesmal für 24 Brandbekäm­pfer, die Mitglieder der staatliche­n Feuerwehre­n waren. Ihre Verwandten erhielten posthum militärisc­he Verdiensta­uszeichnun­gen des höchsten Grades und dazu ein goldenes „Abzeichen für das zur Landesvert­eidigung erbrachte Opfer“. Die 24 hatten dem Ministeriu­m für öffentlich­e Sicherheit unterstand­en, während die 80 anderen ums Leben gekommenen Feuerwehrl­eute „nur“auf Vertrags- basis zur hörten.

Sein Sohn sei einen Tod zweiter Klasse gestorben, sagte der Vater. Wie stolz war er auf ihn gewesen, als er mit 16 Jahren nach Abschluss der Mittelschu­le bei der Hafenfeuer­wehr anfing und es dort zum Teamchef brachte. Der Junge war ihr zweites Kind, sagte der Vater. Sie verstießen gegen Chinas Einkindpol­itik. Die Familie habe 1997 all ihr Geld zusammenge­kratzt, um die Strafgebüh­r aufzubring­en. „Wir zahlten für ihn 80.000 Yuan.“Das entspricht 11.100 Euro. p Langfassun­g: dSt.at/Weltchroni­k

Hafenfeuer­wehr

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Hafen von Tianjin, wo 173 Menschen ihr Leben verloren.
Ein Arbeiter geht mit Gasmaske durch das Gebiet der Explosion im Hafen von Tianjin, wo 173 Menschen ihr Leben verloren.

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