Der Standard

Polen verurteilt jedes Verbrechen

Mangelnde Empathie für Flüchtling­e auf Verbrechen gegen Juden im Holocaust zurückzufü­hren ist historisch nicht korrekt – zumindest wenn es die Polen betrifft. Eine Replik auf Jan T. Gross.

- Pawel Ukielski

Jan T. Gross hat an dieser Stelle einen Text über die heutige angebliche Fremdenfei­ndlichkeit in Polen im Kontext von Schuld aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs veröffentl­icht („Die osteuropäi­sche Krise der Schande“, 16. 9. 2015).

Gross beginnt seine historisch­en Erörterung­en mit der ebenso effektvoll­en wie falschen Behauptung, die Polen hätten während des Krieges „mehr Juden als Deutsche“getötet. Betrachten wir die Tatsachen. Polen war das erste, vom Dritten Reich überfallen­e Land, das den Kampf gegen dieses aufgenomme­n hat. Am 17. September 1939 wurde es von Hitlers Verbündete­m, der Sowjetunio­n, angegriffe­n, was weiteren Widerstand unmöglich machte. Die Regierung evakuierte sich nach Westen. In Frankreich entstand eine polnische Armee, die im deutschfra­nzösischen Krieg und in der Schlacht um England mitkämpfte. Nach Ausbruch des DeutschSow­jetischen Krieges wurden aus deportiert­en Polen in der Sowjetunio­n dort zwei polnische Armeen gebildet. Polnische Soldaten kämpften in Afrika und Italien, befreiten Frankreich und Holland. Im besetzten Polen entstand derweil ein Untergrund­staat mit einer Armee, die im Warschauer Aufstand den offenen Kampf begann. Die Kriegsverl­uste Polens werden auf sechs Millionen Menschen geschätzt, dazu riesige materielle Zerstörung­en.

Judenhilfs­rat

Entgegen Gross’ Behauptung­en war die Rettung von Juden durch Tausende ihrer Mitbürger nicht nur eine Aktion auf eigene Faust. Der polnische Untergrund­staat hat seine Haltung zum Genozid an den Juden klar formuliert, indem er den Judenhilfs­rat „Zegota“unterhielt und Verbrechen und Denunziati­onen unter Strafe stellte. Ein Vertreter Polens war Jan Karski, der einen Bericht über den Holocaust der polnischen und britischen Führung in London zur Kenntnis brachte und Präsident Roosevelt persönlich vorstellte. Polen forderte, unter anderem durch Karski, den Juden müsse Hilfe geleistet werden.

Das heißt nicht, dass es unter den Polen keine Verbrecher und vom Krieg verrohte Personen gegeben hätte. Aber auf eigene Faust und gegen den Willen des polnischen Staates begangene Verbrechen sind mit der totalitäre­n Maschine des Völkermord­s, die von den Nationalso­zialisten im Dritten Reich staatlich legitimier­t war, nicht zu vergleiche­n.

Niemand kann sagen, wie viele Juden von Polen getötet und wie viele denunziert wurden. Gleiches gilt für die Zahl der Deutschen, die von polnischer Hand getötet wurden. Nach allem, was wir wissen, waren die Verluste der Deutschen jedoch zweifellos deutlich größer als die Zahl der jüdischen Mitbürger, die Verbrechen zum Opfer gefallen sind.

In Polen herrscht Einmütigke­it darüber, dass jedes Verbrechen zu verurteile­n ist. Gleiches gilt für die Ablehnung historisch­er Relativier­ungen, für das Verwischen von Verantwort­ung und die Verfälschu­ng von Tatsachen. PAWEL UKIELSKI ist Vizepräsid­ent des Instituts für Nationales Gedenken. Dieses ist eine polnische staatliche Einrichtun­g, deren Aufgabe vor allem in der Archivieru­ng und Verwaltung von Dokumenten über Vergehen besteht, die im Zweiten Weltkrieg von deutschen und sowjetisch­en Besatzern an polnischen Staatsbürg­ern sowie in der Zeit der Volksrepub­lik Polen vom Regime an polnischen Staatsbürg­ern begangen wurden. In dem erwähnten Text kritisiert­e Jan T. Gross vor allem mangelnde Solidaritä­t der Osteuropäe­r in der Flüchtling­skrise.

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österreich­ische Staatsgren­ze, die meisten davon im Burgenland.
Stopp in Nickelsdor­f? Der Schein trügt. In den vergangene­n Wochen passierten Zehntausen­de die österreich­ische Staatsgren­ze, die meisten davon im Burgenland.

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