Wie das heißt, wenn die Kuh das zweite Mal kaut
Sprachforscher der Uni Innsbruck arbeiten daran, Nuancen der Tiroler Dialekte zu kartografieren. Dabei stehen sie vor den Grenzen der Abbildbarkeit des gesprochenen Wortes und der Wandelbarkeit von Sprache.
Innsbruck/Genf – In den frühen 1970er-Jahren haben Sprachforscher der Universität Innsbruck damit begonnen, ihre Schreibtische zu verlassen und die Bewohner von mehr oder weniger entlegenen Tiroler Bergdörfern zu fragen, wie sie verschiedene Gegenstände oder Tätigkeiten in ihrem lokalen Dialekt bezeichnen. „Sag mir, wie heißt das, wenn die Kuh das zweite Mal kaut?“, war eine der rund 2200 Fragen, mit denen die Exploratoren ins Feld zogen. Im Standarddeutsch spricht man von „Wiederkäuen“, im hintersten Stubaital bezeichnete man das als „Einkoiden“, im Paznaun „Gramaila“, in anderen Gegenden Tirols wurde mit „Itrachn“geantwortet.
Vor allem ging es bei den Fragen um das bäuerliche Leben – und dabei auch recht ins Detail. In einer Aufzeichnung aus Fieberbrunn finden sich etwa die Bestandteile eines Daches: „Fiascht“(Firstbaum), „Mittelpfettn“(Sparren), „Dochkenl“(Dachrinne). Wichtig ist bei der Befragung auch, dass das Wort, um das es geht, nicht vorweggenommen wird. Dialoge zwischen Explorator und Gewährsperson haben sich also etwa so zugetragen:
Frage: „Wenn i schnell geh, dann tu i ...?“Antwort: „reinna.“Frage: „Und gestern bin i a ...?“Antwort: „grennt.“Die Sprachforscher notierten die Antworten in einer speziellen Lautschrift namens Teuthonista, denn „die Buchstaben des normalen Alphabets reichen da meistens nicht aus“, sagt Yvonne Kathrein, Germanistin an der Universität Innsbruck. Die Aufzeichnungen aus 119 Gemeinden und fünf Ortschaften wurden zu einem analogen Archiv – dem sogenannten Tiroler Dialektarchiv – zusammengetragen. „Und da liegen sie seit mittlerweile fast über 40 Jahren“, sagt Kathrein. Sie hat kürzlich damit begonnen, das analoge Archiv zu digitalisieren. Dafür war die Entwicklung einer computerisierten Lautschrift notwendig, die möglichst einfach mit einer herkömmlichen Tastatur eingegeben werden kann. Gefördert von der Tiroler Kulturabteilung und der Uni Innsbruck, entwickelten die Grafiker Florian Gapp und Matthias Triendl die Lautschrift Taiga.
Anstelle der 26 Buchstaben des herkömmlichen Alphabets umfasst Taiga 1900 Glyphen: Buchstaben mit kleinen Zeichen wie Punkten, Strichen, Häkchen, Kreuzen, Bogen oder Kreisen, die jeweils unterschiedliche Nuancen bezeichnen. Wenn man zum Beispiel ein e und einen Punkt eingibt, wird die Eingabe vom System automatisch zusammengesetzt.
Tattermandl und Wegnarr
Ziel des Projekts ist ein digitaler Sprachatlas für Tirol, auf dem die verschiedenen Nuancen der Tiroler Dialekte auf interaktiven Karten abgebildet werden. So ließe sich dann etwa auch für Laien lesbar auf einen Blick sehen, wo in Tirol der Alpensalamander Tattermandl genannt wird und wo man von Regenmandl, Wegnarr oder Quarterpetsch spricht – ein- geblendet in Google Maps in verschiedenfärbigen Bereichen. Zusätzlich soll die Digitalisierung des Tiroler Dialektarchivs später die Möglichkeit des Crowd-Sourcing bieten: Die Bevölkerung könnte sich durch den Upload von Audioaufnahmen mittels einer geeigneten Smartphone-App beteiligen. „Im Wandel begriffene Sprachphänomene könnten so sichtbar gemacht werden“, sagt Kathrein.
Wie viele dialektale Ausprägungen es von einem Begriff gibt, ist von Wort zu Wort verschieden, oft zwischen fünf und zehn, sagt Kathrein. Beim Wort Hemd zerfällt Tirol klar in Ost, wo „Hemed“gesagt wird und West, wo es „Pfoad“heißt. Mehrere Varianten gibt es hingegen bei Wetterphänomenen: Von „feiferlen“, „pfeifelen“bis „trupfetzn“reicht die Tiroler Dialektpalette, um leichten Regen zu bezeichnen. Kathrein: „Tirol ist zwar nicht sehr groß, aber der Dialekt ist sehr differenziert.“
Dabei gilt: Oft ist nicht so einfach zu sagen, ab wann eine geringfügig andere Aussprache schon eine neue dialektale Ausprägung ist und welche Varianten zusammengefasst werden. Und auch für die Niederschrift gilt, dass etwa ein e mit Häkchen nie eine absolute Größe ist, sondern im Extremfall in jeder Ortschaft ein wenig unterschiedlich ausgesprochen wird.
Interessanterweise verlaufen die Grenzen zwischen den Dialektregionen von Wort zu Wort unterschiedlich. Und manchmal tauchen bestimmte dialektale Ausprägungen auf, wo man sie gar nicht erwarten würde. „An solchen Dialektinseln können wir historische Wanderungen nachvollziehen“, sagt Kathrein.
Alpenromanischer Einfluss
Was die Tiroler Dialekte besonders interessant macht, ist, dass sie, auf dem Germanischen fußend, auch romanische Einschläge haben. Diese gehen zurück auf die Eroberung des Alpenbogens durch die römischen Heerführer Tiberius und Drusus 15 v. Chr. Diese ließen sich mit ihren Legionen im Alpenraum nieder und sprachen dort „kein schönes Cicero-Latein“, wie Kathrein sagt, sondern das sogenannte Alpenromanische. Das erwähnte „Gramaila“ist beispielsweise ein Relikt aus dieser Zeit.
Als Vorbild für den digitalen Tiroler Sprachatlas dient der Schweizer Sprachatlas. Die Dialekte kaum einer anderen Region sind so gut erforscht wie jene der deutschsprachigen Schweiz – ungefähr jedes dritte Dorf wurde erhoben, sagt Yves Scherrer, Computerlinguist an der Uni Genf, der an der Digitalisierung des Schweizer Sprachatlas arbeitet.
Mithilfe der sogenannten Dialektometrie, die auf Hans Goebl von der Universität Salzburg zurückgeht, entwickelt Scherrer interpolierte Karten, in denen farblich zwischen verschiedenen Dialektregionen unterschieden wird (siehe Abbildungen unten). Auch hier zeigt sich: Die Grenzen verlaufen von Wort zu Wort unterschiedlich. „Für manche Wörter stellen Berge eine starke Grenze dar, für andere überhaupt nicht“, sagt Scherrer. Auch die Konfession spielt eine Rolle.
Bleibt zuletzt die Frage, wie sich das theoretische Wissen um Dialekte in der Praxis anwenden lässt. Kathrein: „Versuchen kann ich es, fliege aber schnell auf. Passiv habe ich zwar von vielen Dialekten eine Ahnung, aber aktiv bekomme ich das Kasknödel-K nicht aussa.“