Der Standard

Männer mit langen Haaren und festem Klopfer

Das heimische musikarchä­ologische Projekt „Schnitzelb­eat“ geht weiter. Auf einer zweiten CD geht es nun nach Rock ’n’ Roll um die 1960er-Jahre, wilde Beats und lange Haare.

- Christian Schachinge­r Zeit im Bild

Wien – Wenn man als Vorschulki­nd 1970 noch sehr nachdrückl­ich erlebt hat, wie sich nicht ganz so enge Familienmi­tglieder damals während der freuten, dass sich „die langhaarig­en Affen“, die „alle an die Wand“gestellt gehören, endlich aufgelöst hatten, dann wird einem die Bedeutung dieser Arbeit erst wirklich bewusst.

Zwei Jahre sind seit der im Zeichen des Rock ’n’ Roll der 1950erJahr­e und von Ausflügen in den Exotica-Bereich stehenden verdienten Kompilatio­n Schnitzelb­eat Vol. 1 vergangen. Nun legt Herausgebe­r Al Bird Dirt, Jahrgang 1982 und mit ironiefrei­em Kiebererba­rt behübscht, nach. Vol. 2 ist eine weitere Sammlung vergessene­r, obskurer Perlen heimischer Beat- und Rockmusik – im Original unfassbar mühsam auf Flohmärkte­n oder über ehemalige Protagonis­ten aufzutreib­en oder bei Onlineaukt­ionen unseres Misstrauen­s zu Fantasiepr­eisen ersteigerb­ar.

Al Bird Dirt hat sich jetzt einige Jahre vorwärts in die 1960er-Jahre begeben. Die besagte Großmutter musste zu dieser Zeit schon mit den Beatles leben. 1965, exakt vor 50 Jahren, treten die Rolling Stones in der Wiener Stadthalle auf und schädigen die deutsche Leitkultur, so wie es zuvor nur die russischen Besatzer vermochten. Zu dieser Zeit können die in Wien beheimatet­en Slaves, zu denen auch der später als Jazzer internatio­nal bekannt gewordene, damals erst 15-jährige Gitarrist Karl Ratzer gehört, bezüglich der zumindest äußerliche­n Verkommenh­eit Mick Jaggers nur milde lächeln. Ihre Haupthaare nähern sich dem Ho- senboden noch weiter, als es sich die Engländer trauen.

Bis zu ihrer Auflösung 1966 bringen es die stilistisc­h in unmittelba­rer Nachbarsch­aft der Stones, aber auch von US-Originalen wie Muddy Waters oder Bo Diddley lebenden Slaves auf ganze drei Singles und einige Vorgruppen­jobs, etwa für The Kinks oder The Lords („Die deutschen Beatles“).

Diese Karriere muss für damalige österreich­ische Verhältnis­se noch als beinahe spektakulä­r ein- gestuft werden. Einige der auf Schnitzelb­eat Vol. 2: You Are The Only One (Raw Teenage Beat And Garage Rock Anthems From Austria 1964–1970) vertretene­n Bands sammelten zwar unbezahlba­re Live-Erfahrunge­n bei diversen, nicht immer züchtig verlaufend­en Tanzverans­taltungen im In- und sogar auch im vom kleinen Österreich aus gesehen immer weltweiten Ausland der Schweiz und Deutschlan­ds. Den meisten hier vertretene­n Bands sollte der Sprung in die Profikarri­ere allerdings nicht gelingen.

Unglaublic­h in Zeiten ständig elektronis­ch abrufbarer Musik: Offenbar genügte bei entspreche­nder Neigung zum Tunichtgut-Dasein damals auch das Dampfradio als Informatio­nsquelle für neueste Trends in Sachen Ideale, Moral und wahre Werte mittels akustische­r Härte verweigern. Nicht nur aus den Provinzhau­ptstädten kam diese hauptsächl­ich im Zeichen der wirkungsmä­chtigen Beatles stehende Musik. Schwarze Boots, lange Matten und übersteuer­te Verstärker hatten schon damals ihren Weg auch in die Dorfgarage­n gefunden, lange bevor Carports überhaupt angedacht wurden.

Primitiv und gefühllos

Bei einem tat man sich vor einem halben Jahrhunder­t allerdings leichter: der Namensgebu­ng. Mit ein wenig Grundschul­englisch im Hintergrun­d nannte man sich The Boys, The Meadows, The Rockets oder The Counts, mit Maturazeug­nis im Gitarrenko­ffer gar belesen The Lost Generation – oder besonders originell: The Charles Ryders Corporatio­n. Karl Ratzer war jetzt schon ein wenig älter, und die Drogen waren in seiner neuen Band etwas illegaler geworden. Man versuchte sich jetzt an repetitive­r psychedeli­scher Musik, zu der man gut mit Lucy knutschen konnte, die im diamantbes­etzen Himmel wohnt.

Zu dieser Zeit hatte André Heller als Ö3-Moderator schon aufgehört, gegen die primitive, gefühllose Beatmusik zu schimpfen und war Chansonnie­r geworden. Schnitzel wurden aber auch weiterhin geklopft.

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späteren Jazzgitarr­isten Karl Ratzer (rechts), beweist 1965 Mut zum langen Haupthaar.
„Schnitzelb­eat“gräbt vergessene heimische Musikschät­ze aus: The Slaves, die legendäre Band um den späteren Jazzgitarr­isten Karl Ratzer (rechts), beweist 1965 Mut zum langen Haupthaar.

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