Der Standard

„Der Weg ist längst nicht abgeschlos­sen“

Thomas Graw gehört dem Betreuerst­ab des österreich­ischen Fußballnat­ionalteams an. Der Sportpsych­ologe spricht über Erfolg und die Abenteuer im Kopf und in den Beinen.

- Christian Hackl

INTERVIEW: STANDARD: Tauschen wir die Rollen: Was ist im Sportpsych­ologen Graw am späten Abend des 8. September in Solna vorgegange­n, als nach dem 4:1 gegen Schweden die Teilnahme an der EM und der Gruppensie­g festgestan­den sind? Graw: Freude pur.

STANDARD: Spezielle Gedanken unmittelba­r nach Abpfiff? Graw: Es war eine Bestätigun­g für die Arbeit. Wir wussten ja, dass wir auf einem guten Weg sind. Dinge, die initiiert wurden, passten hervorrage­nd. Mir ist klargeword­en, dass ein fundiertes Konzept zu einem positiven Ergebnis geführt hat.

STANDARD: Sie sind im Februar 2012 zum Nationalte­am gestoßen. Wenn Sie den Entwicklun­gsprozess aus Ihrer Warte beschreibe­n, gab es irgendwelc­he Schlüsselm­omente? Graw: Es ging step by step. Es ist das Ergebnis einer systematis­chen, profession­ellen Arbeit, die nicht dadurch geprägt ist, dass man den einen Wundermome­nt hat. Man kann das als ein Mosaik bezeichnen, in dem nach und nach die passenden Steinchen zusammenge­setzt worden sind.

STANDARD: War das Scheitern in der Qualifikat­ion für die WM 2014 eine Voraussetz­ung, um nun so erfolgreic­h zu sein? Es heißt ja, aus Niederlage­n lernt man. Graw: Das kann ich nicht bestätigen. Denn schon in der WM-Quali konnte man sehen, dass sich da etwas entwickelt. Es hat halt noch nicht ganz gereicht.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass der Mensch allgemein oder der Fußballer im Speziellen gar keine Niederlage­n braucht? Graw: So pauschal würde ich das nicht sagen. Selbstvers­tändlich kann man auch aus Niederlage­n lernen, man kann aber auch aus Erfolgen lernen. Das passiert zu selten, es wird zu oft defizitär geschaut und gedacht. Man kann nach einer gewonnenen Partie durchaus fragen, was haben wir in der einen Halbzeit besser gemacht als in der anderen, und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.

STANDARD: Marcel Koller hat jenen Spielern, die er einmal ausgewählt hat, stets vertraut. Trotz Widerstän- den von außen. Janko, Fuchs oder Almer, um nur drei Beispiele zu nennen, sind bei ihren Vereinen kaum bis gar nicht nicht zum Zug gekommen, trotzdem waren sie im Nationalte­am gesetzt. Ist Vertrauen die Basis für Spitzenlei­stungen? Graw: Absolut. Das gilt vor allem fürs Selbstvert­rauen. Bin ich mir trotz schwierige­r externer Umstände meiner Qualitäten bewusst, sage ich mir, ich kann es, ist ein wesentlich­er Schritt getan. Wird das dann noch ergänzt durch Menschen um mich herum, die das gleiche Gefühl haben und vermitteln, bin ich in einem positiven mentalen Zustand. Ich spreche da gerne vom „ideal performanc­e state“, das ist ein Teil davon. Vertrauen tut Menschen gut, sie sind in der Lage, an ihr Limit zu gehen.

STANDARD: Es wird von den Spielern betont, man sei im Nationalte­am eine große Familie, in der das Musketierp­rinzip gilt: einer für alle, alle für einen. Wie klappt das? Gerade in Familien wird auch gestritten, und im Leistungss­port geht es nicht zuletzt um Ellbogente­chnik, Konkurrenz­kampf und Egoismen. Graw: Ich würde den Begriff Familie durch Team ersetzen. Aus sportpsych­ologischer Sicht hat sich ein Team gebildet. Ein gutes Team zeichnet sich dadurch aus, dass ein Teamwork vorhanden ist. Das wiederum funktionie­rt nur, wenn man sich gegenseiti­g unterstütz­t, wenn jeder seine Aufgaben kennt und löst. Jeder muss sich darüber klar sein, dass er seine Egoismen dem Erfolg der Gemeinscha­ft unterordne­n muss. STANDARD: Mussten Sie bei dieser Familien- oder Teambildun­g nachhelfen? Graw: Schwierig zu beantworte­n. Es gab mit Sicherheit Rahmenbedi­ngungen, die den Prozess erleichter­t haben. Weil die Spieler die richtigen Eigenschaf­ten und Qualitäten mitgebrach­t haben. Sie sind Persönlich­keiten. Es gab den einen oder anderen Input, nicht nur von mir. So wurde das Ganze möglicherw­eise veredelt.

STANDARD: Es wird im Team häufig der Begriff Wohlfühloa­se verwendet. Besteht da nicht die Gefahr einer gewissen Bequemlich­keit? Graw: Selbstvers­tändlich muss man das immer im Auge behalten. Genauso muss man auf Übermotiva­tion achten. Schaut man sich einzelne Fußballspi­ele an, spricht man von übermotivi­ert, übertriebe­ner Härte, übertriebe­ner Aggressivi­tät. In der Tat bedarf es immer eines bestimmten Korridors, in dem alles stattfinde­n soll. Fällst du runter, rutschst du in die Bequemlich­keit ab. Überschrei­test du ihn, kommst du in den Bereich der Übermotiva­tion. Beides ist nicht leistungsf­örderlich.

STANDARD: Die Spieler haben während der gesamten EM-Quali eine gewisse Demut an den Tag gelegt. Gebetsmühl­enartig sagten sie, man sei noch nicht in Frankreich, man müsse abwarten, habe noch nichts erreicht, alles sei offen. War das antrainier­t, oder ist Demut ebenfalls ein wichtiger Parameter? Graw: Sie ist wichtig. Obwohl ich den Begriff Demut in diesem Zusammenha­ng gar nicht so mag, er gehört durch Realismus ersetzt. Wir wissen, was im Sport alles passieren kann, dass es an Kleinigkei­ten hängen kann. Ein Ergebnis entsteht immer durch das komplexe Zusammensp­iel vieler Variablen. Insofern ist das nichts anderes als purer Realismus, wenn sie sagen, ja, das Spiel war gut, ja, wir haben gewonnen, wunderbar, aber es ist noch nichts vollbracht. Diese Worte bedeuten, dass ich nicht nachlassen kann, mir einen positiven Spannungsz­ustand erhalte. Ich kann erst dann nachlassen, wenn ein Ziel erreicht ist.

STANDARD: Hatten Sie Probleme mit der österreich­ischen Mentalität? Angeblich wird in diesem Land ziemlich viel geraunzt. Graw: Es gehört mit zu der Natur eines Menschen, dass er unzufriede­n ist. Unzufriede­nheit kann auch eine Quelle für Verbesseru­ng und Optimierun­g sein. Schlägt es um in die Richtung, dass man hadert und keine Lust mehr hat, ist es fatal. Ein Sportler darf nicht in diesen Zustand abrutschen, das habe ich aber beim Nationalte­am überhaupt nicht bemerkt. Ich habe von Anfang an eine absolut positive Sportlerme­ntalität beobachten können, die da heißt: Wir wollen etwas.

STANDARD: Sie haben sich intensiv mit dem Thema Burnout beschäftig­t. Sind Profifußba­ller gefährdete­r als andere Berufsgrup­pen? Graw: Nein.

STANDARD: André Heller hat einmal gesungen: ‚ Die wahren Abenteuer sind im Kopf‘. Stimmt das, oder finden die Abenteuer eher in den Beinen statt? Graw: Da möchte ich persönlich antworten. Ich glaube nicht, dass ich meine wahren Abenteuer nur im Kopf erlebt habe, sondern deshalb, weil ich auch tätig geworden bin. Gleichwohl unterstütz­t der Kopf das. Und der Kopf wird durch einen guten Körper unterstütz­t, Biologie und Psychologi­e müssen also eine Einheit bilden. Ist das der Fall, dann erlebe ich wunderbare und zufriedens­tellende Abenteuer.

STANDARD: Die hat die österreich­ische Nationalma­nnschaft erlebt? Graw: Ja, ganz klar.

STANDARD: Etwas Prinzipiel­les, fast Ketzerisch­es: Wird der Fußball nicht zu wichtig genommen? Graw: Ja, an manchen Stellen wird er überhöht. Da kann ich nur zustimmen.

STANDARD: Wird die Sportpsych­ologie noch immer unterschät­zt? Graw: Der Weg ist längst nicht abgeschlos­sen, an vielen Stellen stößt man auf Widerstand, unter anderem mit dem Argument: Ich bin ja nicht deppert. Jürgen Klinsmann hat sie 2004 in Deutschlan­d hoffähig gemacht. Sportpsych­ologie ist Mentaltrai­ning. Es bedarf immer Menschen, die progressiv­er, vorausscha­uender und offener sind. Nicht nur im Fußball.

THOMAS GRAW (50) aus Hagen im Ruhrgebiet studierte Psychologi­e in Trier, ließ sich zum Sportpsych­ologen ausbilden. Er ist geschäftsf­ührender Gesellscha­fter der Firma Mental Management in Bochum. Von 2006 bis 2009 gehörte er dem Betreuerst­ab des Bundesligi­sten Bochum an. Trainer war damals Marcel Koller. Der Schweizer Koller holte den Deutschen Graw im Februar 2012 zum österreich­ischen Nationalte­am.

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Thomas Graw kann beim ÖFB von Beginn an eine „absolut positive Sportlerme­ntalität“beobachten.
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(das Team) in Montenegro, am 12. in Wien gegen Liechtenst­ein.
8. September, Feier in Schweden. Am 9. Oktober kickt die Familie (das Team) in Montenegro, am 12. in Wien gegen Liechtenst­ein.

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