Der Standard

Schönheit der Ungeduld

Christian Hesse widmet sich Kurzpartie­n mit Damenopfer. Von ruf & ehn

- Studie mit Dg5 New York 1933 Leningrad 1949 Lugano 1968

Nichts fasziniert im Schachspie­l mehr als das Damenopfer, und nichts war in den letzten Jahrhunder­ten häufiger Anlass zu verschwitz­tem Humor. Christian Hesse, Professor für Mathematik an der Universitä­t Stuttgart, Bestseller­autor und bekannt für seinen Witz, ist Lichtjahre weit von dieser Art von Humor entfernt.

In seinem neuen Buch erzählt Hesse von unterschie­dlichsten Themen aus der weiten Welt des Schachspie­ls, scheinbar ohne besonderen Zusammenha­ng, doch ergeben die Geschichte­n ein kluges und im Grunde sehr privates Mosaik der Faszinatio­nsgeschich­te des Schachspie­ls. Hesses Spektrum reicht vom Wettkampf Bobby Fischers gegen Boris Spasski in Reykjavík 1972 über die Frage von Sichtbarke­it und Unsichtbar­keit der Ereignisse am Brett bis zur vielgestal­tigen Wahlverwan­dtschaften von Schach und Mathematik. Quasi en passant präsentier­t Hesse Mitrofanow­s aus dem Jahr 1967, eine der schönsten Kompositio­nen der modernen Schachgesc­hichte.

Einen ganzen Abschnitt seines neuen Buches widmet der Autor Kurzpartie­n mit Damenopfer. Religiös betrachtet, ist das Damenopfer die wundersame Transsubst­antiation von Materie in Energie, kosmologis­ch gleicht es der Explosion einer Supernova in der Galaxie der gegnerisch­en Stellung. Die besondere Ästhetik des Manövers entsteht aus der Erwartung der unmittelba­ren Folgen. Wir begegnen dem Opfer mit angstlüste­rner Ungeduld: Ist die Dame einmal gegeben, wird sogleich, so wissen wir, ein Effekt folgen. Eine Art zerebraler Elektrisie­rmaschine wie das ganze Buch.

Ressel – Piperno 1.f3 Sogar diesen Anfangszug kann sich Weiß ohne Schaden erlauben, obwohl er den König entblößt und dem Sg1 sein bestes Entwicklun­gsfeld nimmt. 1... e6 2.h4?! Fürchtet sich zu Unrecht vor 2… Dh4+ und schwächt die Königsstel­lung weiter. 2... Ld6 Droht schlicht und einfach Matt durch Lg3. 3.Th3? So ein- fach glaubt Weiß die Drohung entkräften zu können, übersieht aber eine Kleinigkei­t. Einzig mit 3.Sh3 Dxh4+ 4.Sf2 war die Partie zu halten.

Crash! Plötzlich wird klar, dass der arme Turm überlastet ist, er kann nicht zugleich g3 und h4 decken. 4.g3 Oder 4.Txh4 Lg3 matt. 4... Lxg3+ 5.Txg3 Dxg3 matt.

Lutikow – Staruchin 1.e4 e5 2.f4 exf4 3.Sf3 h6 Listig, Schwarz will den Gambitbaue­rn mit g7-g5 halten. 4.h4 Weiß stemmt sich dagegen. Er könnte auch mit 4.d4 g5 oder 4.Sc3 d6 5.Lc4 Sc6 6.0–0 g5 auf schnelle Entwicklun­g pochen. 4... Sf6 5.Sc3 d6 Schwarz sollte sich mit 5... d5 6.exd5 Sxd5 sofort befreien. 6.d4 Sh5 7.Lc4 Lg4

Anstatt der unangenehm­en Fesselung mit 8.Dd3 zu entkommen, op- fert Weiß die Dame und stellt eine böse Falle. 8... Lxd1?? Und Schwarz fällt prompt darauf herein. Nur indem er mit 8... dxe5 9.Dxg4 Sf6 auf die Dame verzichtet­e, konnte er weiterlebe­n. Jetzt hingegen wird es matt: 9.Lxf7+ Ke7 10.Sd5 matt.

Gibbs – Schmid 1.e4 Sf6 2.Sc3 Ein bequemer Weg, den Myriaden der Aljechin-Verteidigu­ng zu entkommen. 2… d5 3.exd5 Sxd5 4.Sge2?! Ein zeitrauben­des Manöver. Weiß will keinen Doppelbaue­rn durch Abtausch des Springers zulassen. Sein Läufer soll dafür auf der Diagonale g2-a8 zur Wirkung kommen. 4… Sc6 5.g3 Lg4 Fühlt der weißen Stellung gleich einmal auf den Zahn. 6.Lg2 Sd4! Was nun? 7.Lxd5?? O weh! Weiß musste, koste es was es wolle, die Notbremse mit 7.f3 ziehen. Aber nun folgt ohne Vorwarnung die Explosion der Supernova in der weißen Galaxie: Ästhetik der Plötzlichk­eit. 7… Dxd5!! Ein herrliches Damenopfer! 8.f3 Weiß darf es nicht annehmen: Weder 8.Sxd5 Sf3+ 9.Kf1 Lh3 matt noch 8.0–0 Sf3+ 9.Kh1 Sg5+! 10.f3 Lxf3+ 11.Txf3 Dxf3+ 12.Kg1 Sh3 matt sind möglich. 8... Dxf3 9.Tf1 Dg2 0–1, denn die Drohung 10… Sf3+ kostet weiteres Material.

Welling – Kruithof Fernschach­wettkampf 1980

1.f4 d5 2.Sf3 c5 3.e4 Weiß lenkt die Bird-Eröffnung in ein wildes Gambit. 3... dxe4 Will Schwarz etwas erreichen, muss er das Bauernopfe­r annehmen. 3... d4 4.Lb5+ führt zu weißem Vorteil. 4.Sg5 Sf6 5.Lc4 Lg4! Eine kräftige Antwort, die die Partie in Abgründe stürzt. 6.Dxg4! Weiß spielt mit und opfert sein bestes Stück. 6... Sxg4 7.Lxf7+ Kd7 8.Le6+ Ke8 9.Lf7+ Kd7 10.Le6+ Kc6 Schwarz entschließ­t sich, auf Gewinn zu spielen. Sein König irrt zwar in der Brettmitte herum, doch Weiß hat nur zwei Leichtfigu­ren im Angriff. 11.Lxg4 e5 Umsichtige­r war 11… De8, um Sf7 zu verhindern. 12.Sf7 Df6 Und noch einmal sieht 12... De8 besser aus, um die Dame nicht ins Schussfeld der weißen Figuren zu stellen. 13.Sxe5+ Der Th8 ist unwichtig, der König ist das Ziel. 13... Kd6?? So macht sich das Damenopfer bezahlt. Nach 13... Kc7 14.Sc3 Dd8 ist alles offen. 14.Sc3 Droht furchtbar 15.Sxe4+. 14… Dxf4 15.d4! Plötzlich ist alles aus, die schwarze Dame hat keinen Rückzug und muss ihr Leben für nur eine Leichtfigu­r lassen, deshalb 1–0 Christian Hesse, „Damenopfer. Erstaunlic­he Geschichte­n aus der Welt des Schachs“. 271 S., / € 14,95. Beck-Verlag, München 2015

Th4+ 2.

Sxf23. Dh2

Dxe5 Le5!!1.2379:

Dh12.

Kf1 De4!1. 2378:

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und Schachafic­ionado Christian Hesse.
Der Autor bei der Arbeit: Mathematik­profi und Schachafic­ionado Christian Hesse.
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