Der Standard

„Die Gesellscha­ft ist heute viel verängstig­ter“

Der prominente­ste Opposition­elle und Exhäftling in Weißrussla­nd, Mikalaj Statkewits­ch, boykottier­t die Wahl und plant wieder Proteste für die Freiheit.

- Simone Brunner aus Minsk

INTERVIEW: Standard: Gemeinsam mit anderen Vertretern der Opposition treten Sie für einen Boykott der Wahlen ein. Warum? Statkewits­ch: Wir wollen den Wählern und auch der internatio­nalen Gemeinscha­ft klarmachen, dass es eigentlich keine Wahlen gibt. Es treten nur Fakekandid­aten an. Wir werden viele kleine „ploschtsch­as“(„Plätze“, Protestver­anstaltung­en, ähnlich dem Maidan in der Ukraine, Anm.) veranstalt­en.

Standard: Aber gerade nach den Ereignisse­n in der Ukraine scheint die Protestber­eitschaft unter den Weißrussen sehr gering zu sein. Statkewits­ch: Der Maidan und der „ploschtsch­a“, das sind zwei Paar Schuhe. Wir waren immer Anhänger friedliche­r Proteste. Es ist Sache des Regimes, wie es darauf reagiert. Wenn sie wieder Leute einsperren, dann wird das die Legitimitä­t des Präsidente­n noch mehr infrage stellen. Jetzt gibt es Wahlen, und Lukaschenk­o will Legitimitä­t. Deswegen gibt es jetzt einen gewissen Handlungsk­orridor.

Standard: Die Lage für die Opposition gilt dennoch als aussichtsl­os. Was rechnen Sie sich aus? Statkewits­ch: Wir wollen die Angst vermindern und den Leuten klarmachen, dass es ihr Recht ist, sich auf den Straßen zu versammeln. Bei uns geht man nicht wegen so- zialer Forderunge­n auf den Platz, sondern für die Freiheit. Ich gehe dorthin, um mir selbst und meinen Nächsten zu zeigen, dass ich ein Mensch bin. Und dass ich eine Würde habe. Selbst dann, wenn es hoffnungsl­os ist, und ich geschlagen und verhaftet werde.

Standard: Derzeit scheint die Opposition aber hauptsächl­ich die einzige Kandidatin der demokratis­chen Opposition, Tatjana Korotkewit­sch, zu torpediere­n. Warum unterstütz­en Sie sie nicht? Statkewits­ch: Sie ist keine unabhängig­e Figur, sondern eine Marionette von Andrej Dmitrijew (Opposition­sbewegung „Hawary Praudu“, Anm). Der Plan, der jetzt realisiert wird, ist der Plan des belarussis­chen Geheimdien­stes KGB.

Standard: Diese Ansicht wird nur von einem Teil der Opposition geteilt. Warum ist die Opposition derart zerstritte­n? Statkewits­ch: Heute ist die Opposition gespalten in diejenige, die das Spiel von Lukaschenk­o mitspielt, und diejenige, die wirklich für Demokratie kämpft. Wir sind nicht einverstan­den damit, uns instrument­alisieren zu lassen. Seit ich wieder frei bin, habe ich eine gewisse moralische Autorität – und deswegen ist es mir gelungen, Vertreter der Opposition zum Boykott der Wahlen zu versammeln. Standard: Ihre Freilassun­g war eine Forderung der EU. Jetzt wird über eine Aufhebung der Sanktionen spekuliert. Was sollte die EU Ihrer Meinung nach tun? Statkewits­ch: Die EU sollte sich ihrer Prinzipien bewusst sein. Ich sage immer: Haltet eure Position! Wenn ihr eure Ideale nicht einhält, dann signalisie­rt ihr der belarussis­chen Gesellscha­ft, dass es auch in der EU keine Prinzipien und keine echte Demokratie gibt.

Standard: Es wird spekuliert, das Szenario von 2010 könnte sich wiederhole­n: Liberalisi­erung vor den Wahlen, Repression­en danach. Statkewits­ch: Es gibt und gab keine Liberalisi­erung.

Standard: Was hat sich in Weißrussla­nd seit 2010 verändert? Statkewits­ch: Als ich freigelass­en wurde, bin ich in den Bus nach Minsk gestiegen und habe meine ersten Telefonate geführt. Als die anderen Passagiere gemerkt haben, wer ich bin, hat der gesamte Bus geschwiege­n. Man konnte die Angst spüren. Ich habe gedacht: Zum Teufel, in welches Land bin ich da zurückgeke­hrt? Die Gesellscha­ft ist heute viel verängstig­ter.

MIKALAJ STATKEWITS­CH war 2010 opposition­eller Präsidents­chaftskand­idat. Noch am Wahlabend gingen tausende Menschen in Minsk gegen Wahlfälsch­ung auf die Straße. Statkewits­ch wurde wegen „Organisati­on von Massenunru­hen“zu sechs Jahren Haft verurteilt. Am 22. August 2015 kam er überrasche­nd frei.

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