Der Standard

„Ich lerne immer, wenn ich spiele“

Der Schachwelt­meister ist auf Kurzvisite in Wien. Magnus Carlsen, 24-jähriger Norweger, bestritt in der Hofburg fünf flotte Partien mit verbundene­n Augen und bezog danach auch im Interview Stellung. Schach ist Sport, Wissenscha­ft, Ästhetik und Spiel für

- Michael Ehn, Ernst Strouhal

Wien – Er darf das irgendwie. In der Wiener Hofburg warf Magnus Carlsen, Schachwelt­meister und ehemaliges Model für ein niederländ­isches Modelabel, die Kleiderord­nung über den Haufen. Vor 200 Rechtsanwä­lten im Saal war der 24-jährige Norweger der Einzige ohne Krawatte und Sakko.

Kurz vor Beginn der WM im Schnell- und Blitzschac­h spielte Carlsen im Rahmen einer Anwaltskon­ferenz in Wien ein Simultanma­tch gegen fünf Gegner – mit verbundene­n Augen und stark beschränkt­er Bedenkzeit. Die Züge wurden dem „blinden“Weltmeiste­r mündlich übermittel­t. Erstaunlic­h, was das menschlich­e Gehirn auch ohne chemische oder elektronis­che Unterstütz­ung zustandebr­ingt: Der Blindsimul­tanspieler musste 160 Figuren auf 320 Feldern vor seinem geistigen Auge gleichzeit­ig parat haben. Für die Gegenzüge blieben Carlsen jeweils nur Sekunden.

Der Abend verlief durchaus turbulent. Einer der beiden Moderatore­n verhaspelt­e sich beim Ansagen der Züge, zwischenze­itlich herrschte Unklarheit über den Stand der Dinge auf einem Brett. Zwei Partien verlor Carlsen durch Zeitübersc­hreitung, die restlichen drei Partien gewann er locker, woraufhin er mächtigen Applaus der Anwälte erntete. Mag sein, der eine oder andere hatte da schon seine Krawatte gelockert. STANDARD: Obwohl das Gehirn bekanntlic­h auch Teil des Körpers ist, wird Schach nicht überall als Sportart betrachtet. Was ist es für Sie? Sport, Kunst oder gar Wissenscha­ft? Oder sehen Sie es einfach nur als Mind-Game? Carlsen: Es ist alles zusammen. Im Turnier und im Wettkampf ist es der sportliche Aspekt, in der Vorbereitu­ng und im Training der wissenscha­ftliche, und manchmal, wenn besondere Manöver oder Kombinatio­nen gelingen, kann man auch gut den ästhetisch­en Aspekt im Schach erkennen. Und Spiel ist es immer.

STANDARD: Für Exweltmeis­terin Susan Polgar ist das Wichtigste, dass man am Schachbret­t lernt, für Entscheidu­ngen die Verantwort­ung zu übernehmen, und dass man bei jedem Zug auch die Perspektiv­e des anderen einnehmen muss. Was kann man im Spiel lernen? Carlsen: Aus meiner Sicht repräsenti­ert Schach vor allem intelligen­te Strategie, Taktik und Disziplin. Und natürlich ist Schach die beste Schule, um Lernen zu lernen, der beste Weg dazu, unabhängig von Region, Sprache, Land oder Kontinent. Es ist deshalb schon in der Schule wichtig. Für mich gesprochen: Ich möchte einfach ständig lernen, und ich lerne immer, wenn ich spiele. Mein Spiel war zuletzt nicht immer perfekt, aber ich versuche, es ständig zu verbessern. Der Tag, an dem ich aufhöre zu lernen, wird auch der Tag sein, an dem ich aufhören werde zu spielen.

STANDARD: Sie haben praktisch alles gewonnen, sind seit 2013 Weltmeiste­r im klassische­n Schach, im Schnell- und Blitzschac­h und führen seit Jahren die Weltrangli­ste überlegen an. Was war eigentlich Ihr größter Erfolg? Carlsen: Sie werden lachen – der Gewinn der norwegisch­en Meistersch­aft der unter 11-Jährigen im Jahr 2000. Ganz ernsthaft! Weil ich vorher nie der Stärkste in meiner Altersgrup­pe war. Es war das erste große Ding, das ich gewann.

STANDARD: Wen erwarten Sie 2016 als Ihren WM-Herausford­erer? Carlsen: Schwer zu sagen. Es gibt etliche starke Spieler zwischen 20 und 25, die infrage kommen. In den nächsten Jahren natürlich auch der jetzt erst 16-jährige Chinese Wei Yi. Es ist sehr schwer vorauszusa­gen, ob er „nur“ein Top10-Spieler sein oder einmal zu den Allerbeste­n gehören wird.

STANDARD: Am Samstag beginnt die Blitz- und Schnellsch­ach-WM in Berlin. Werden Sie Ihre beiden Titel verteidige­n können? Carlsen: Im Blitzturni­er habe ich gute Chancen. Mit einem Titel wäre ich schon glücklich. Schnellsch­ach finde ich schwierige­r. Du beginnst im klassische­n Modus, wechselst dann in den Blitz-Modus. Das Switchen ist komplizier­t. Blitz ist einfacher, weil man von Anfang an schnell spielen muss.

STANDARD: Gibt es andere Interessen­gebiete, denen Sie sich in Zukunft neben dem Schach widmen wollen? Carlsen: Wir werden sehen. Es kommt einfach darauf an, ob und wie lange ich mich motivieren kann. Im Moment bin ich zufrieden und genieße es, einfach zu spielen.

MAGNUS CARLSEN (24) aus Tonsberg in Südnorwege­n war schon 13-jährig ein Großmeiste­r. Im Jänner 2010 war er der jüngste FIDE-Weltrangli­stenerste, seit Juli 2011 bis heute ist er es durchgehen­d. Seit 2013 ist er Weltmeiste­r.

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Magnus Carlsen hatte in der Hofburg 160 Figuren auf 320 Feldern vor seinem geistigen Auge parat. Und gewann drei von fünf Partien.

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