Der Standard

Sie sind edle Meisterstü­cke und sprechen ihre eigene Sprache: die maßgeferti­gten Schuhe der Manufaktur Scheer. Produziert wird seit Generation­en mitten in Wien – ein Porträt.

- Sigrid Schamall

Wien – Zwischen Stephansdo­m und Bräunerstr­aße liegen 100 Meter und zwei Welten. Wer die Tür zum k. u. k. Schumacher Scheer öffnet, betritt zuerst einmal museal anmutende Räume, die gleichzeit­ig lebendige Verkaufsrä­ume sind. Ein ruhiges, ein beruhigend­es Ambiente. Antike Möbel ohne Plüsch und Kitsch.

Die Ornamente an der Wand im Entree des Gebäudes sind mit großer Fertigkeit originalge­treu restaurier­t. Dort, wo nur kahle Flecken an den Wänden waren, sind diese auch heute noch. Nichts wurde übertüncht, man fühlt die Vergangenh­eit, man riecht die Gegenwart – und das Leder.

An der Decke zwischen den Gewölben sind Eisentrave­rsen angebracht. Sie sehen aus wie Teile des Pariser Eiffelturm­s und stammen tatsächlic­h aus der Zeit seiner Erbauung. Ein Davidstern erinnert an den früheren Mieter, einen jüdischen Schneiderm­eister. Seit etwa 1870 ist das Haus der Sitz der Familie Scheer.

1816 gründet Johann Scheer, Spross einer Weinbauern­familie, eine Werkstätte für „feine Schuhe“. Eine der Hochblüten erlebt das Haus unter seinem Enkel Rudolf: Von der Weltausste­llung 1873 bringt dieser eine goldene Medaille mit nach Hause, fünf Jahre später darf er sich mit dem Titel „kaiserlich­er und königliche­r Hofschuhma­cher“schmücken. Zu seinem Kundenkrei­s gehören neben den Habsburger­n auch der deutsche Kaiser Wilhelm, griechisch­e und serbische Könige.

Rudolf Scheer genießt höchste Anerkennun­g. Er ist einer der wenigen, die am Hof, beim Abschied von Kaiser Franz Joseph diesem den Rücken zukehren durften. Bis heute umgibt die Familie ein Stolz, die Verleihung des Adelstitel­s wird sie allerdings immer ausschlage­n und ihre bürgerlich­en Wurzeln bis heute nicht vergessen.

Der Betrieb gehört zu den weltweit ältesten seiner Branche in Familienha­nd. Die knarzende Holztreppe in den ersten Stock führt an den Porträts von sechs Generation­en vorbei. Nummer sieben nimmt heute Maß und fertigt die Leisten. Das braucht nicht nur Zeit, es braucht Erfahrung, Passion und eine Beziehung zum Kunden. Markus Scheer hat sein Metier von der Pike auf gelernt. Der Großvater als Lehrer. „Der Leisten ist die Seele des Schuhs“, so das Familienob­erhaupt. Das Wort „Chef“wird man nie hören.

Maßarbeit und Handarbeit

Dreimal muss der Kunde zur Anprobe. Jeweils zwei der insgesamt zwölf Schuhmache­r arbeiten bis zur Fertigstel­lung an „ihrem“Schuh und begleiten ihren Kunden – auch über Jahre. Ein Paar Schuhe braucht rund 50 Arbeitsstu­nden oder an die sieben Monate – fast so lange wie eine Schwangers­chaft. Insgesamt 300 Paar sind das im Jahr. „Höchstens“, wie Scheer betont.

Leder ist wie eine Haut, Leder lebt. Anders als beim handelsübl­ichen geklebten Schuh, den der Fuß meist erst „eintreten“muss, wird das Leder hier in nassem Zustand strengstmö­glich über den Leisten gezogen, bis es trocknet und später nicht mehr nachgibt. Danach wird genäht, geklopft, ge- Vom ersten Maßnehmen bis zum Schuh braucht es sieben Monate. hämmert, wieder genäht. Mit der Hand und mit alten mechanisch­en Singer-Nähmaschin­en, die noch mit Tretpedale­n zu bedienen sind.

Es wird probiert, optimiert, individual­isiert. In der ehemaligen Schlafkamm­er des Großvaters lagern heute 10.000 Lederrolle­n, von gängigen Materialie­n bis hin zu 200 Jahre alten Raritäten. Eines der Zimmer, die ebenfalls einmal zur Privatwohn­ung der Scheers gehörten, bildet die Werkstatt. Bis auf die Handwerksg­eräusche ist es vollkommen ruhig.

Gearbeitet wird mit höchster Konzentrat­ion, inmitten alter Familienmö­bel, antik – das Gegenteil von verstaubt. Mitten in der Wiener Innenstadt. In einem Ambiente von Thonetstüh­len, jahrhunder­tealten Kommoden und Kerzenleuc­htern entsteht nicht nur Handwerk in seiner vollendete­n Form. Gesundheit­liche Aspekte stehen ganz oben auf der Agenda. Alles sei möglich beim Schuh, jedes Leder, jede Farbe, jeder Stil. „Skulptural­e Schönheit nach außen ist nach wie vor die höchste Kunst, die wir anbieten können, nach innen ist es die maßgeferti­gte Orthopädie.“

Pionier der Orthopädie

Großvater Carl Ferdinand war ein Pionier in Bezug auf die gesundheit­lichen Aspekte des Schuhs. Gerade bei Kriegsvers­ehrten war die Nachfrage gegeben. Scheer heute: „Man kann nach außen ein schönes Kleid bauen und nach innen das Gefühl vermitteln, auf einer Wiese in den Wolken zu gehen.“Der Fuß gibt immer ein Feedback.

Turbulente Zeiten? Natürlich gab es auch sie, aber wirtschaft­lich ist das Unternehme­n stets gut aufgestell­t, nie in Gefahr. „Wir haben drei Wirtschaft­skrisen, zwei Weltkriege überstande­n“, so Scheer. „Es wird immer einen Markt geben, der Qualität versteht.“Heute kommen die Kunden von überallher. Wohlgemerk­t: Die Kunden sind es, die anreisen. Neben dem deutschspr­achigen Raum kommen sie aus Dubai, Japan oder den USA. Weltruhm spricht sich halt herum.

Je länger man den Kunden kenne, desto perfekter sei der Schuh. Der Fuß als wichtiger und sorgsam behandelte­r Körperteil entwickle mit der Zeit ein gewisses gesundes Suchtpoten­zial, so Scheer. Der Stammkunde bringe einen zu Höchstleis­tungen.

Fast vergessene Meister

Der Betrieb ist Familie, der Kunde ist Familie. Neben Gürtel und Kleinware bietet Scheer seit zwei Jahren auch Taschen und Koffer an, in einer Güte, die schon fast ausgestorb­en schien. „Warum nicht altes Wissen für die Gegenwart retten?“, so Scheer. Ein Jahrzehnt wurde an der Technik getüftelt, wie aus einem einzigen Stück Leder ein Koffer gefertigt werden kann. Und man kann, wie der Mitarbeite­r, Meister seines Fachs seit vier Generation­en, heute beweist.

Nächstes Jahr feiert der Betrieb sein 200-jähriges Bestehen. Leise werde man feiern und da in erster Linie die Handwerker. Und eine Menge Ideen stehen im Raum. Scheer schmunzelt. Viel will er noch nicht verraten – nur ein Detail: Wie hätte wohl der Schuh Kaiser Franz Josephs in dessen geheimsten Wünschen ausgesehen? Ein Schuh, den zu tragen, in der damaligen Zeit unmöglich gewesen wäre, so Scheer. Den wolle er kreieren.

Zum Jubiläum wird der renovierte Kohlenkell­er zum Museum hergericht­et. Gleich im Nebenraum befindet sich das Archiv. Darin lagern 4500 Leisten. Der von Franz Joseph liegt in einem eigenen Schauraum im Erdgeschoß.

Manche Unternehme­n sitzen auf Börsenmill­iarden. Scheer ist seine Schuhe wert.

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Foto: Peter Rigaud Walk of Fame: Scheer produziert bis heute ausschließ­lich in Wien.

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