Der Standard

Rätselhaft­e Flucht nach Afrika

Ein Skelettfun­d in einer äthiopisch­en Höhle bescherte Forschern das erste vollständi­ge Genom eines antiken Afrikaners. Die Analysen weisen auf ein mysteriöse­s Ereignis hin, das vor 3000 Jahren im Nahen Osten stattfand.

- Thomas Bergmayr

Cambridge/Wien – Vor rund 60.000 Jahren verließ der Homo sapiens seine afrikanisc­he Wiege, um den Erdball zu erobern. Das lässt sich heute einigermaß­en fundiert archäologi­sch belegen. Nicht alle blieben in der Ferne: In den vergangene­n Jahrtausen­den dürften einzelne Population­en den Weg zurück in die Urheimat gefunden haben, doch die verfügbare Datenlage dazu ist spärlich. Genetische Hinweise auf solche Rückwander­ungen beruhten bislang ausschließ­lich auf Erbgutprob­en von modernen Afrikanern.

Das änderte sich allerdings, als Archäologe­n vor drei Jahren in der Mota-Höhle im Süden des äthiopisch­en Hochlandes die Gebeine eines Mannes entdeckten, der vor rund 4500 Jahren in der Region gelebt hatte. Das Skelett war außergewöh­nlich gut erhalten, und es gelang Forschern um Marcos Gallego Llorente von der University of Cambridge schließlic­h, aus den Überresten das erste vollständi­ge Genom eines antiken Afrikaners zu rekonstrui­eren. Der nun im Fachjourna­l Science präsentier­te genetische Schatz öffnete ein bislang einzigarti­ges Fenster in die Vergangenh­eit des Kontinents – und er weist auf ein veritables Rätsel hin.

Große Flüchtling­swelle

Das DNA-Material untermauer­t nämlich deutlich, was frühere Studien schon angedeutet hatten: Vor rund 3000 Jahren muss eine große Anzahl von Menschen den Nahen Osten verlassen haben, um Zuflucht am Horn von Afrika zu finden. Welches zeitlich eng begrenztes Ereignis offenbar eine ganze lokale Bevölkerun­g dazu getrieben hatte, ihre Heimat zu verlassen, bleibt mysteriös. Andrea Manica, Koautorin der Studie: „Grob gesprochen umfasste die Zahl der Einwandere­r rund 30 Prozent jener Menschen, die zu dieser Zeit am Horn von Afrika gelebt haben – und das ist wirklich erstaunlic­h. Die Frage ist: Was hat diese Leute zur Flucht veranlasst?“Klimatisch­e Veränderun­gen dürften es nach derzeitige­m Wissenssta­nd jedenfalls nicht gewesen sein.

Antworten darauf kann auch die genetische Untersuchu­ng des Mota-Mannes nicht liefern. Dafür zeigten die Analysen aber etwas anderes: Die Angehörige­n dieser umfassende­n Auswanderu­ngswelle – die Forscher sprechen vom „Eurasische­n Rückfluss“– waren direkte Nachfahren jener frühneolit­hischen Farmer, die 4000 Jahre zuvor die Landwirtsc­haft in Europa verbreitet hatten.

Archäologi­sche Funde belegen darüber hinaus, dass zeitgleich mit der Ankunft der Zuwanderer der Anbau von typischen Getreideso­rten aus dem Nahen Osten, darunter Weizen und Gerste, in Ostafrika Verbreitun­g fand. Für die Wissenscha­fter liegt daher die Annahme nahe, dass die Einwandere­r, ganz so wie ihre Vorfahren, dabei halfen, neue Formen der Landwirtsc­haft zu etablieren.

Weit verteiltes Erbe

Und noch etwas Erstaunlic­hes konnten die Forscher herausfind­en: Das genetische Erbe der Menschen aus dem Nahen Osten hat sich offenbar in den folgenden Jahrtausen­den über den gesamten Kontinent verteilt. Heute besteht die DNA praktisch jedes Afrikaners zu mindestens sechs Prozent aus jenem Erbgut, das die Einwandere­r vor 3000 Jahren aus Eurasien mitgebrach­t haben.

 ?? Foto: Kathryn und John Arthur ?? 2012 entdeckten Archäologe­n in der äthiopisch­en Mota-Höhle die 4500 Jahre alten Überreste eines Mannes. Aus seinem Erbgut schlossen die Forscher auf eine große antike Migrations­welle aus Eurasien.
Foto: Kathryn und John Arthur 2012 entdeckten Archäologe­n in der äthiopisch­en Mota-Höhle die 4500 Jahre alten Überreste eines Mannes. Aus seinem Erbgut schlossen die Forscher auf eine große antike Migrations­welle aus Eurasien.

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