Merkel zeigt Führungsstärke
Die deutsche Kanzlerin sieht die Flüchtlingsfrage als historische Herausforderung
Es war wie eine Regierungserklärung im Fernsehen: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach in der TV-Sendung ungewöhnlich klar über das Thema Flüchtlinge, das nicht nur Deutschland bewegt. Merkel duckte sich nicht weg, sagte deutlich, sie wisse im Augenblick auch nicht, wie viele Flüchtlinge noch nach Deutschland kommen würden. Grenzzäune und Aufnahmestopp seien aber keine Lösung. „In Sonntagsreden werden Werte beschworen, ich bin Vorsitzende einer christlichen Partei.“Auf Kritik, auch in den eigenen CDU-Reihen und aus der CSU, ging sie offensiv ein: Vielen Menschen Schutz zu bieten sei die wohl schwierigste Aufgabe seit der Wiedervereinigung, aber ihre „verdammte Pflicht“, erklärte Merkel und bekräftigte: „Ich werde das Problem lösen.“
Das war nicht nur eine Kampfansage. Mit diesem souveränen Auftritt und jenem am gleichen Tag im EUParlament zeigte Merkel politische Führungskraft – über Deutschland hinaus. Sie untermauerte ihre vor einem Monat getroffene Aussage „Wir schaffen das.“Das ist eine mutige Politik, denn in Umfragen stürzen Merkels Werte bereits ab, und in ihrer Partei wird die Kritik lauter. Die CDU-Chefin stellte sich am Donnerstag auch direkt Fragen von Bürgern und schottet sich nicht ab.
Das hat sie sich von Helmut Kohl abgeschaut, der vor der Einführung des Euro über unzählige Markt- und Dorfplätze zog und versucht hat, seine Landsleute davon zu überzeugen, dass es gut sei, die Deutsche Mark zugunsten des Euro aufzugeben. Kohl spannte den großen historischen Bogen, und auch Merkel tat es ihm gleich, indem sie den Vergleich zur Mammutaufgabe Wiedervereinigung zog. Dass sie als ehemalige DDR-Bürgerin keine Zäune mehr aufstellen will rund um ihr Land, spielt eine wichtige Rolle. n den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft hat Merkel häufiger moderiert als agiert. Auch in der Flüchtlingsfrage hat sie lange gebraucht, um sich zu positionieren. Jetzt tut sie es mit Verve, es ist zu ihrer Mission geworden. Das unterscheidet ihr Auftreten von jenem während der Griechenland-Krise. In dieser Zeit sah man ihr die Genervtheit an. Das Flüchtlingsproblem sieht sie als ihre persönliche Herausforderung, als Aufgabe, die ihr die Geschichte stellt.
IBei ihrem sozialdemokratischen Vorgänger Gerhard Schröder gab es auch einen Punkt, an dem er wusste, er muss die unter Agenda 2010 und Hartz IV bekannt gewordenen Einschnitte ins Sozialsystem durchsetzen. Die Erholung der Wirtschaft und das Land waren ihm ab da wichtiger als die Kanzlerschaft. Er wusste, er würde die Wahl 2005 verlieren.
Der Grünen-Politiker Joschka Fischer hat es seinen „Srebrenica“-Moment genannt, als er zur Überzeugung gelangt war, Deutschland müsse zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg Soldaten in einen Kriegseinsatz schi- cken. Dass dieser Beschluss just von einer rot-grünen Regierung gefällt wurde, war für die pazifistische Basis ein Bruch mit Überzeugungen. Als Kriegstreiber wurde Fischer von anderen Grünen beschimpft und mit Farbbeuteln attackiert.
Es scheint Momente im Leben mancher Politiker zu geben, in denen sie genau wissen, was sie zu tun haben – jenseits aller Wahlkalküle. Das ist Führungsstärke, wenn es nicht mehr um die eigene Karriere geht, sondern um das große Ganze. Diese Form von Leadership gibt es in der österreichischen Politik derzeit nicht.