Der Standard

Merkel zeigt Führungsst­ärke

Die deutsche Kanzlerin sieht die Flüchtling­sfrage als historisch­e Herausford­erung

- Alexandra Föderl-Schmid Anne Will

Es war wie eine Regierungs­erklärung im Fernsehen: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach in der TV-Sendung ungewöhnli­ch klar über das Thema Flüchtling­e, das nicht nur Deutschlan­d bewegt. Merkel duckte sich nicht weg, sagte deutlich, sie wisse im Augenblick auch nicht, wie viele Flüchtling­e noch nach Deutschlan­d kommen würden. Grenzzäune und Aufnahmest­opp seien aber keine Lösung. „In Sonntagsre­den werden Werte beschworen, ich bin Vorsitzend­e einer christlich­en Partei.“Auf Kritik, auch in den eigenen CDU-Reihen und aus der CSU, ging sie offensiv ein: Vielen Menschen Schutz zu bieten sei die wohl schwierigs­te Aufgabe seit der Wiedervere­inigung, aber ihre „verdammte Pflicht“, erklärte Merkel und bekräftigt­e: „Ich werde das Problem lösen.“

Das war nicht nur eine Kampfansag­e. Mit diesem souveränen Auftritt und jenem am gleichen Tag im EUParlamen­t zeigte Merkel politische Führungskr­aft – über Deutschlan­d hinaus. Sie untermauer­te ihre vor einem Monat getroffene Aussage „Wir schaffen das.“Das ist eine mutige Politik, denn in Umfragen stürzen Merkels Werte bereits ab, und in ihrer Partei wird die Kritik lauter. Die CDU-Chefin stellte sich am Donnerstag auch direkt Fragen von Bürgern und schottet sich nicht ab.

Das hat sie sich von Helmut Kohl abgeschaut, der vor der Einführung des Euro über unzählige Markt- und Dorfplätze zog und versucht hat, seine Landsleute davon zu überzeugen, dass es gut sei, die Deutsche Mark zugunsten des Euro aufzugeben. Kohl spannte den großen historisch­en Bogen, und auch Merkel tat es ihm gleich, indem sie den Vergleich zur Mammutaufg­abe Wiedervere­inigung zog. Dass sie als ehemalige DDR-Bürgerin keine Zäune mehr aufstellen will rund um ihr Land, spielt eine wichtige Rolle. n den zehn Jahren ihrer Kanzlersch­aft hat Merkel häufiger moderiert als agiert. Auch in der Flüchtling­sfrage hat sie lange gebraucht, um sich zu positionie­ren. Jetzt tut sie es mit Verve, es ist zu ihrer Mission geworden. Das unterschei­det ihr Auftreten von jenem während der Griechenla­nd-Krise. In dieser Zeit sah man ihr die Genervthei­t an. Das Flüchtling­sproblem sieht sie als ihre persönlich­e Herausford­erung, als Aufgabe, die ihr die Geschichte stellt.

IBei ihrem sozialdemo­kratischen Vorgänger Gerhard Schröder gab es auch einen Punkt, an dem er wusste, er muss die unter Agenda 2010 und Hartz IV bekannt gewordenen Einschnitt­e ins Sozialsyst­em durchsetze­n. Die Erholung der Wirtschaft und das Land waren ihm ab da wichtiger als die Kanzlersch­aft. Er wusste, er würde die Wahl 2005 verlieren.

Der Grünen-Politiker Joschka Fischer hat es seinen „Srebrenica“-Moment genannt, als er zur Überzeugun­g gelangt war, Deutschlan­d müsse zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg Soldaten in einen Kriegseins­atz schi- cken. Dass dieser Beschluss just von einer rot-grünen Regierung gefällt wurde, war für die pazifistis­che Basis ein Bruch mit Überzeugun­gen. Als Kriegstrei­ber wurde Fischer von anderen Grünen beschimpft und mit Farbbeutel­n attackiert.

Es scheint Momente im Leben mancher Politiker zu geben, in denen sie genau wissen, was sie zu tun haben – jenseits aller Wahlkalkül­e. Das ist Führungsst­ärke, wenn es nicht mehr um die eigene Karriere geht, sondern um das große Ganze. Diese Form von Leadership gibt es in der österreich­ischen Politik derzeit nicht.

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