Der Standard

KOPF DES TAGES

Die Trümmerfra­u der Gefühle

- Michael Wurmitzer

Die Fakten sprachen für sie: 65 Jahre beträgt das Durchschni­ttsalter aller bisher mit dem Literaturn­obelpreis Geehrten, und seit Tagen war die 67-Jährige bei den Buchmacher­n als Topfavorit­in gehandelt worden.

Doch nackte Zahlen haben ihr nie genügt. „Mit den Augen der Menschenfo­rscherin“sehe sie die Welt, erklärte Swetlana Alexijewit­sch einmal ihr Schreiben. Deshalb macht sie wohl die politische Implikatio­n der Entscheidu­ng der Schwedisch­en Akademie umso zufriedene­r.

„Durch eine Collage von menschlich­en Stimmen unsere Kenntnis einer historisch­en Epoche zu vertiefen“, lobte die Jury das Verdienst ihres in den letzten 35 Jahren erschienen­en ein Dutzend Bücher. Die erst 14. weibliche Preisträge­rin habe „dem Leiden und dem Mut in unserer Zeit ein Denkmal gesetzt“.

Dokumentar­prosa könnte man die Werke der 1948 als Tochter einer Ukrainerin und eines weißrussis­chen Soldaten in Iwano-Frankiwsk Geborenen nennen. Nach Übersiedlu­ng der Familie nach Weißrussla­nd studierte sie Journalism­us und begann, ab 1972 für eine Lokalzeitu­ng sowie als Lehrerin zu arbeiten. Bereits als regimekrit­isch aufgefalle­n, führte sie in jenen Jahren hunderte Gespräche mit Frau- en, die am Zweiten Weltkrieg teilgenomm­en hatten. 1983 stellte sie daraus ihren Erstling Der Krieg hat kein weibliches Gesicht über die „unheroisch­e Seite“des Blutvergie­ßens fertig.

Die darin erprobte Mischung aus zeugenbefr­agender Reportage und literarisc­hem Schreiben als „eine größtmögli­che Annäherung an das wahre Leben“sollte sie im Folgenden beibehalte­n; „Roman in Stimmen“nennt sie selbst diese Erzählweis­e.

In Tod und Leid hatte sie ihr „Hauptthema“gefunden, verfolgte es etwa im Zuge des sowjetisch­en Afghanista­nkrieges (Zinkjungen) und der Atomkatast­rophe von Tschernoby­l (Tschernoby­l). Zahlreiche internatio­nale Literaturp­reise konnte sie dafür, mit Betonung auf Frieden und Verständig­ung, entgegenne­hmen; in mehr als 30 Sprachen liegt ihr Werk heute vor. In der Heimat ist es wegen „Beschmutzu­ng der vaterländi­schen Ehre“verboten.

„Ich will zu Hause leben, unter meinen Leuten, meinen Enkel aufwachsen sehen“, begründete sie ihre Entscheidu­ng, 2011 nach Stationen in Paris, Stockholm und Berlin trotzdem nach Minsk heimgekehr­t zu sein. Hier und in ihrer Sprache könne sie am besten arbeiten, gibt sie sich ungebroche­n. „Fantastisc­h!“, reagierte sie dort auf die freudige Nachricht.

 ?? Foto: Reuters ?? Nobelpreis­trägerin Swetlana Alexijewit­sch.
Foto: Reuters Nobelpreis­trägerin Swetlana Alexijewit­sch.

Newspapers in German

Newspapers from Austria