Der Standard

Weiter Proteste in Ankara

Die Ermittlung­en nach dem schwersten Terroransc­hlag in der Geschichte der Türkei richten sich gegen die Extremiste­n des „Islamische­n Staats“. Die Regierung ist in Erklärungs­not. Zehntausen­de Protestier­ende warfen ihr Versagen oder gar Mittätersc­haft vor.

- Markus Bernath

Tausende gingen am Sonntag nach dem schlimmste­n Terrorakt in der Geschichte der türkischen Republik auf die Straße.

Ankara/Wien – Wut und Trauer sind stärker als die Furcht vor weiteren Anschlägen. Tausende Türken gingen am Sonntagmor­gen in Ankara auf die Straße, einen Tag nach dem schlimmste­n Terrorakt in der Geschichte der türkischen Republik. „Erdogan, Mörder“, rief die Menge, die zum Sihhiye-Platz im Zentrum der Hauptstadt zog. Der Großteil der Demonstran­ten, die landesweit in Städten protestier­ten, geben dem Staatspräs­identen und seiner Regierung die Schuld an dem Anschlag.

Zwei Selbstmord­attentäter hatten sich am Samstagvor­mittag vor dem Hauptbahnh­of in Ankara in die Luft gesprengt. 96 Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein, 246 wurden verletzt. 128 Tote seien es in Wahrheit gewesen, sagte der Kurdenpoli­tiker Selahattin Demirtaş in seiner Ansprache auf dem Sihhiye-Platz. Der Anschlag richtete sich gegen Teilnehmer an einer Friedensku­ndgebung, die aus allen Teilen des Landes nach Ankara kamen und sich gerade auf einem Platz zwischen Bahnhof und der Kongressha­lle Ankara-Arena zu versammeln begannen. Zum „Arbeiter-Friedensta­g“, der Samstagmit­tag als Kundgebung auf eben dem Sihhiye-Platz stattfinde­n sollte, hatten Gewerkscha­ften, Berufskamm­ern und die kurdisch orientiert­e Minderheit­enpartei HDP aufgerufen. Sie wollte ein Zeichen gegen den Krieg setzen, den der türkische Staat und die verbotene Arbeiterpa­rtei Kurdistans PKK seit Ende Juli führen.

Möglicherw­eise Attentäter­in

Die beiden Attentäter sollen als Sprengstof­f TNT verwendet haben und kleine Metallkuge­ln, um möglichst viele Opfer zu verursache­n. Einer der Selbstmord­attentäter sei eine Frau gewesen, berichtete­n türkische Medien am Sonntag unter Berufung auf Ermittler.

Der konservati­v-islamische Regierungs­chef Ahmet Davutoglu hatte am Samstagabe­nd noch die PKK selbst als mögliche Urheberin des Anschlags genannt. Doch die Ermittlung­en richteten sich ausschließ­lich gegen die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS), wie türkische Sicherheit­skreise der Nachrichte­nagentur Reuters am Sonntag sagten. Der Anschlag in Ankara sei ähnlich dem Selbstmord­attentat in der Stadt Suruç an der türkisch-syrischen Grenze im vergangene­n Juli. Damals wurden 33 junge Türken getötet, meist kurdische Studenten. Angebliche PKK-Mitglieder brachten daraufhin zwei türkische Polizisten in ihrer Wohnung um. Das nahm Staatschef Tayyip Erdogan zum Anlass für den Krieg gegen die PKK.

Der Anschlag in Suruç war bereits dem IS zugeschrie­ben worden. Selahattin Demirtaş, der KoVorsitze­nde der HDP, hatte damals schon der Regierung vorgeworfe­n, aus Machtkalkü­l mit dem IS zu kollaborie­ren, um Unruhe im Land zu provoziere­n und den Friedenspr­ozess mit der PKK zu beenden. Der HDP war bei den Wahlen im Juni erstmals der Einzug ins Parlament gelungen; sie nahm dadurch der regierende­n AKP nach mehr als zwölf Jahren an der Macht die absolute Mehrheit. Weil danach keine Koalition zustande kam, müssen die Türken am 1. November nochmals wählen.

Demirtaş, aber auch die Führer der anderen Opposition­sparteien – der Sozialdemo­krat Kemal Kiliç- daroglu und der Rechtnatio­nalist Devlet Bahçeli – warfen der Regierung Versagen beim Schutz der Kundgebung in Ankara vor. Diese wies das zurück. Sicherheit­sexperten äußerten aber ähnliche Zweifel. „Natürlich gibt es hier ein Sicherheit­sversagen“, sagte etwa der frühere Polizeiche­f Murat Çetiner – er hatte einmal eine Ohrfeige von der Kurdenpoli­tikerin Sebahat Tuncel erhalten – türkischen Medien: „Wenn mehrere Bomben in einer Hauptstadt hochgehen, dann ist es kindisch zu sagen, es gäbe kein Versagen.“Justizmini­ster Kenan Ipek grinste bei einer Pressekonf­erenz, als der neben ihm sitzenden Innenminis­ter Selami Altinok gefragt wurde, ob er einen Rücktritt erwäge.

Druck auf Medien

Die Regierung erließ wie in früheren Fällen ein Berichtver­bot über das Attentat für die türkischen Medien. Nutzer des Kurznachri­chtendiens­tes Twitter in der Türkei bemerkten am Samstag deutliche Einschränk­ungen. Der Chefredakt­eur der im Ausland beachteten, englischsp­rachigen türkischen Tagezeitun­g Today’s Zaman, Bülent Keneş, war am Freitag mit dem Vorwurf der Präsidente­nbeleidigu­ng aus seinem Redaktions­büro abgeführt und ins Gefängnis gebracht worden.

Natürlich ist jetzt wieder niemand verantwort­lich. Weder die türkische Polizei noch Geheimdien­st noch Innenminis­ter noch gar Premier und Präsident, die kaum eine Gelegenhei­t auslassen, gegen die kurdisch orientiert­e Parlaments­partei HDP zu sticheln. Den verheerend­en Terroransc­hlag in Ankara auf eine Massenkund­gebung von Regierungs­gegnern haben sich – so lautet ihre Argumentat­ion – die Kurden und die linken und liberalen Türken selbst zuzuschrei­ben: „Das Volk hat Chaos gewählt statt Stabilität“, twitterte Burhan Kuzu, ein führender AKPPolitik­er und Chefberate­r von Staatspräs­ident Tayyip Erdogan, nach den Parlaments­wahlen im Juni. Selbst schuld.

Der Anschlag von Ankara kam nur drei Wochen vor den nächsten Parlaments­wahlen, bei denen die Wähler ihren „Fehler“vom Juni korrigiere­n und der konservati­v-islamische­n AKP wieder zur Alleinregi­erung verhelfen sollen. Für viele Bürger im Land sind diese Art von politische­r Gängelei und die scheinbare Ohnmacht der Regierung, die Terroransc­hläge zu verhindern, zutiefst verstörend. Es macht keinen Sinn – oder nur diesen nicht akzeptable­n Sinn, dass der politische­n Führung in der Türkei alles recht wäre, um wieder uneingesch­ränkt bestimmen zu können.

Die Waffenruhe der PKK hat die Regierung sogleich verworfen. Sie bombt weiterhin gegen Stellungen der Untergrund­armee. Europa sorgt sich jetzt um die Türkei, die doch Flüchtling­e aufhalten soll. Damit wird man warten müssen.

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Anhänger der linken türkischen Partei EMEP hielten bei einer Protestkun­dgebung in Ankara Bilder von Opfern des Terroransc­hlags hoch.
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