Der Standard

ZITAT DES TAGES

Journalist­en sollen ihre Rolle nicht überschätz­en, sagt Aufdecker und Pulitzerpr­eisträger David Barstow.

- Sebastian Fellner New York Times

„Alles, was ich tue, muss ich meiner Mutter erzählen können, ohne dass es mir peinlich ist.“

INTERVIEW: STANDARD: Sie kleiden sich für wichtige Interviews gerne bewusst leger – haben Sie dafür extra eine alte Jogginghos­e und ein fleckiges T-Shirt im Kasten? Barstow: Wenn man mit mächtigen Leuten spricht, passiert viel psychologi­sche Kriegsführ­ung. Oft kreuzen die mit Anwälten und Pressespre­chern auf – und alle tragen Anzüge. Ich trage dann eine normale Jeans und ein Hemd. Das zeigt einerseits, dass ich nicht eingeschüc­htert bin, anderersei­ts, dass ich nicht einer von ihnen bin. Das ist von Columbo inspiriert – auch er spricht meistens mit Berühmten und Mächtigen. Er fühlt sich dabei wohl, obwohl er diesen alten Mantel trägt. Columbo zelebriert seine Rolle, auch wenn die Reichen ihn verführen wollen, zu ihnen zu gehören. Das ist etwas, dem auch wir Journalist­en widerstehe­n müssen.

STANDARD: Wie können wir das tun? Barstow: Einstellun­gssache. Herauszufi­nden, was passiert ist, muss das Einzige sein, worum wir uns kümmern.

STANDARD: Viele Journalist­en wählen den Beruf, um die Welt zu verbessern. Liegen sie falsch? Barstow: Der Impuls ist

richtig, aber wir müssen bescheiden­er sein. Man muss daran glauben, dass die Welt besser wird, wenn die Leute sie besser verstehen. Unsere Rolle ist so klein!

STANDARD: Sie haben Ihre Beziehung zum Journalism­us in einer Rede als Ehe beschriebe­n. Schon mal über Scheidung nachgedach­t? Barstow: Nein, ich liebe meinen Job. Ich glaube so fest daran, dass meine Arbeit etwas bewirkt, dass ich nie ... warten Sie, es gab einen Fall ganz am Beginn meiner Karriere. Meine erste investigat­ive Geschichte – und in der Nacht davor hat der Verleger sie auf Druck eines Werbekunde­n ausgehöhlt. Da habe ich mich für Jusstudien beworben, aber ein Freund überzeugte mich, dem Journalism­us noch eine Chance zu geben.

STANDARD: Viele Menschen würden in Ihrer Garderobe einen falschen Schnurrbar­t für Undercover-Recherchen vermuten. Barstow: Ich war noch nie im Leben undercover. Das halte ich für den größten Fehler, den ein investigat­iver Journalist begehen kann: die moralische Überlegenh­eit als Wahrheitsf­inder aufzugeben. Meine Regel lautet: Alles, was ich tue, muss ich meiner Mutter erzählen können, ohne dass es mir peinlich ist.

STANDARD: Sie sind seit diesem Jahr Südostasie­n-Korrespond­ent für die „New York Times“. Sind Ihnen die USA zu langweilig geworden? Barstow: Ich habe den größten Teil der vergangene­n 30 Jahre ausschließ­lich investigat­iven Journalism­us betrieben. Ich suchte nach einem kompletten Tempowech- sel. Indien erschien mir als die perfekte Gelegenhei­t, um für ein paar Monate einen ganz anderen Journalism­us zu machen. Es ist ein tolles Land und schreit nach investigat­iver Berichters­tattung.

STANDARD: Also zieht es Sie erst recht wieder zum Investigat­iven. Barstow: Normalerwe­ise konzentrie­re ich mich nach einer großen investigat­iven Geschichte auf kleinere, einfachere Themen. Das hält meistens für ein paar Monate, und dann tauche ich wieder rein.

STANDARD: Droht investigat­iver Journalism­us im Zuge der Digitalisi­erung unter die Räder zu kommen? Barstow: Die hat den Investigat­ivbereich sogar aufgestock­t. Viele andere Zeitungen stellen ebenso fest, dass ihre Leser große, investigat­ive Geschichte­n lieben.

STANDARD: Welche neuen Herausford­erungen sehen Sie in Ihrer Arbeit? Barstow: Es ist so schwierig geworden, unsere Quellen zu schützen. Früher musste man vorsichtig sein, aber man konnte jemanden anrufen oder einen Kaffee trinken gehen. Der Quellensch­utz wird durch die massenhaft­e elektronis­che Überwachun­g wirklich untergrabe­n. Zweitens ist die gerichtlic­he Verfolgung von Whistleblo­wern verheerend für uns. Die Leute haben eine Riesenangs­t davor, mit uns zu reden. Das hat es nicht gegeben, als ich diesen Job begonnen habe.

DAVID BARSTOW (52) schreibt seit 1999 für die „New York Times“. Drei seiner investigat­iven Arbeiten wurden mit dem Pulitzerpr­eis ausgezeich­net. p Langfassun­g: derStandar­d.at/Etat

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