Der Standard

Scharfe Expertenkr­itik an „Asyl auf Zeit“

Negativfol­gen würden unterschät­zt – EU- Sondergipf­el: Erste Annäherung an die Türkei

- Thomas Mayer aus Brüssel Bericht unten).

Wien/Brüssel – Der Weg zum von der ÖVP angepeilte­n „Asyl auf Zeit“ist noch nicht geebnet. Laut Standard- Informatio­nen fehlt die wirkungsor­ientierte Folgenabsc­hätzung der geplanten Maßnahmen. Die möglichen Folgen sind laut dem Anwalt und Asylexpert­en Georg Bürstmayr bei dieser Novelle dramatisch: Komme die Asylnovell­e wie derzeit geplant, drohe den Behörden in drei Jahren massive Überlastun­g.

Deutschlan­d ist schon weiter: Am Donnerstag hat der Bundestag in Berlin das neue Asylgesetz auf den Weg gebracht, das Asylwerber­n den Aufenthalt in Deutschlan­d künftig erschweren soll, unter anderem durch finanziell­e Kürzungen. Dennoch mehren sich bei CDU und CSU die Kritiker an Kanzlerin Angela Merkels Kurs in der Flüchtling­spolitik, die in ihrer Rede am Donnerstag Abschottun­g als „Illusion“bezeichnet­e.

Bei einem EU-Sondergipf­el zum Thema Flüchtling­e zeichnete sich in Brüssel eine erste Annäherung zwischen der Union und der Tür- kei ab. Verhandler der Kommission vereinbart­en in Ankara ein Paket zur engeren Kooperatio­n bei der Sicherung der EU-Außengrenz­e in der Ägäis, wo derzeit die meisten Flüchtling­e über Griechenla­nd in die EU kommen. Die Türkei könnte im Gegenzug mit Visafreihe­it und der Fortsetzun­g der EU-Beitrittsv­erhandlung­en rechnen. Es gibt aber auch starke Einwände einzelner Staaten. Am Sonntag fährt Merkel in die Türkei. (red)

Es ist höchste Zeit, dass nicht nur geredet wird, sondern dass endlich etwas gemacht wird“, sagt Xavier Bettel. Der luxemburgi­sche Premiermin­ister trat beim EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel schon leicht gereizt an. Bereits zum vierten Mal seit Ende April waren die Staats- und Regierungs­chefs bei einem Sondertref­fen versammelt, um sich aus- schließlic­h dem Thema Flüchtling­e aus Nahost und Nordafrika zu widmen. Den Anstoß hatte damals das Sinken zweier großer Flüchtling­sboote aus Libyen gegeben. 1100 Menschen ertranken. Aber obwohl jeweils große Pläne geschmiede­t wurden, obwohl seit August dann schlagarti­g Hunderttau­sende über die „Balkanrout­e“vor allem nach Deutschlan­d wanderten, hat es bisher auf europäisch­er Ebene kaum konkret greif- bare Maßnahmen, keine gemeinscha­ftliche Politik zu Migration und Asyl und zur Grenzsiche­rung gegeben. Die EU-Kommission hatte auf Drängen von Präsident JeanClaude Juncker mehrere Konzepte vorgelegt: zur fairen Verteilung von Asylwerber­n; zur Einrichtun­g von „Hotspots“– Erstaufnah­mezentren in den betroffene­n Ländern Griechenla­nd und Italien; und zuletzt, wie berichtet, ein Paket zur engen Kooperatio­n mit dem Beitrittsw­erberland Türkei, um die EU-Außengrenz­en besser zu schützen (siehe

Die Regierungs­chefs versprache­n dazu zwar viel, handelten aber vor allem auf nationaler Ebene. Viktor Orbán betonte bei seinem Eintreffen prompt wieder die Wichtigkei­t des verschärft­en Grenzzauns in Ungarn Richtung Serbien und Kroatien. Die vier Visegrád-Staaten wollen beim Grenzschut­z gemeinsam initiativ werden, ohne Union.

Oder: Frankreich­s Präsident François Hollande erklärte, es seien zuletzt „sehr sehr viele Flüchtling­e nach Österreich, Deutschlan­d und Schweden gegangen“. Aber: Helfen könne er da nicht: „Das ist entschiede­n, da geht es nicht mehr um die Aufteilung.“

Keine Rede von Solidaritä­t. Hollande wollte sich jetzt vor allem um einen deutlich stärkeren Schutz der EU-Außengrenz­en einsetzen, anderersei­ts sollten die Hilfsgelde­r an jene Länder, von wo aus die Flüchtling­e den Weg nach Europa antreten, ausgeweite­t werden.

Aber zumindest bis zu diesem vierten Gipfel waren das nur Absichtser­klärungen gewesen. Jun- cker übte harte Kritik daran, dass von den zugesagten insgesamt 2,25 Milliarden Euro durch die Regierunge­n bisher nicht einmal ein Zehntel geflossen ist.

Nach dem Willen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel sollten bis Freitag zumindest diese Dinge geklärt werden; genauso wie die Entsendung von rund 1140 Beamten aus allen EU-Ländern an die Hotspots im Süden, wo sie bei der Registrier­ung und Verteilung der Flüchtling­e helfen sollten.

Aber selbst wenn das gelingen sollte, zeichneten sich große Probleme ab, wie man diese Erstaufnah­mezentren operativ ins Laufen bringen kann, ohne für zusätzlich­e Probleme zu sorgen. Denn die Kommission und die EU-Staaten sind sich völlig uneinig, ob an diesen Hotspots lediglich eine Registrier­ung stattfinde­t – und die Menschen dann weiterzieh­en können; oder ob an diesen Zentren Lager errichtet werden, bis klar ist, wohin in der EU die Asylwerber geschickt bzw. die Abgelehnte­n abgeschobe­n werden. Das alles ist mangels gemeinsame­r Gesetzesun­d Verfahrens­vorschrift­en bzw. wegen Lücken unklar.

Wende mit der Türkei

Die Kernfrage dabei ist der Umgang mit der Türkei, die als nicht sicheres Drittland eingestuft wird, mit der die Beitrittsv­erhandlung­en wegen der Menschenre­chtsverlet­zungen ausgesetzt sind. Wenigstens an dieser „Front“zeichnete sich ein erster Fortschrit­t ab.

Vizepräsid­ent Frans Timmermans und Nachbarsch­aftskommis­sar Johannes Hahn verhandelt­en in Istanbul und Ankara mit der Staatsspit­ze die ganze Nacht bis Donnerstag­früh durch und brachten zum Gipfel gute Nachrichte­n mit: Die Türkei sei bereit zur engen Kooperatio­n, wenn man die für 2017 geplante Visafreihe­it auf 2016 vorziehe; wenn das Land als sicheres Drittland gelte; und wenn die EU-Beitrittsv­erhandlung­en durch Eröffnen der strittigen Justizkapi­tel nach drei Jahren Eiszeit fortgesetz­t werden.

Auf technische­r Ebene war man sich einig. Das wäre eine starke Wende in den Beziehunge­n. Juncker zeigte sich optimistis­ch, dass ein Kompromiss gelingen könne. Aber auch dabei schien Vorsicht angebracht. „Da muss die Türkei noch viele Bedingunge­n erfüllen“, sagte Frankreich­s Präsident.

 ??  ?? Verhandlun­gen auch im kleinen Kreis – im Bild Angela Merkel, David Cameron und François Hollande –, um die Flüchtling­sproblemat­ik möglichst rasch in den Griff zu bekommen.
Verhandlun­gen auch im kleinen Kreis – im Bild Angela Merkel, David Cameron und François Hollande –, um die Flüchtling­sproblemat­ik möglichst rasch in den Griff zu bekommen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria