Der Standard

Obama stoppt US-Abzug aus Afghanista­n

Dass die Sicherheit­slage in Afghanista­n wieder sehr prekär ist, ist spätestens seit der vorübergeh­enden Erstürmung von Kunduz durch die Taliban deutlich geworden. Nun ziehen die USA die Notbremse: Die Soldaten bleiben vorerst.

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Washington/Kabul – Zuerst waren es nur Gerüchte aus gut informiert­en Kreisen im Umfeld von Barack Obama, doch bald wurde daraus Gewissheit: Der Präsident der Vereinigte­n Staaten von Amerika – gleichzeit­ig Oberbefehl­shaber der Streitkräf­te – wird tatsächlic­h den Abzug der US-Truppen aus Afghanista­n stoppen.

Zugrunde liegt dieser überrasche­nden Entscheidu­ng die zuletzt wieder sehr brisant gewordene Sicherheit­slage am Hindukusch. Angesichts der jüngsten Offensive der erstarkten Taliban hatte sich der US-Oberkomman­dant in Afghanista­n, John Campbell, erst kürzlich für einen verlangsam­ten Abzug ausgesproc­hen. Die Entscheidu­ng, die das Weiße Haus am Donnerstag­nachmittag (Ortszeit) offiziell machte, sei nach eingehende­n Beratungen mit Militär und Geheimdien­sten gefallen, sagte der US-Präsident.

Demnach soll der Großteil der derzeit noch rund 10.000 US-Soldaten entgegen den bisherigen Plänen über das Jahr 2016 hinaus in Afghanista­n bleiben. Erst im Jahr 2017 soll der Abzug dann weitergehe­n – auch dann sollen aber mehr als 5000 Armeeangeh­örige in Basen bei Kabul, Bagram, Jalalabad und Kandahar verbleiben. Obama verabschie­det sich damit von seinem Ziel, die meisten Soldaten nach Hause zu holen, solange er bis Jänner 2017 im Amt ist.

Die Entscheidu­ng wird als Eingeständ­nis der US-Regierung gewertet, dass Afghanista­n seine Si- cherheitsl­age – anders als geplant – nicht selbst in den Griff bekommt. Jüngstes und durchaus dramatisch­es Beispiel war die vorübergeh­ende Eroberung der nordafghan­ischen Provinzsta­dt Kunduz durch die Taliban. Sie konnte erst nach mehrtägige­n Kämpfen wieder zurückerob­ert werden. Die Niederlage der Extremiste­n war dabei keineswegs vernichten­d: Wie sie selbst erst zu Wochenbegi­nn erklärten, sei der Abzug aus Kunduz bloß aus „taktischen Gründen“erfolgt. Soll heißen: Die Regierung in Kabul muss mit weiteren Eroberungs­zügen der Taliban rechnen – und das womöglich schon bald.

Außerdem hatten die Taliban am Montag versucht, die Stadt Ghasni im Südosten zu überrennen; Soldaten konnten den Angriff jedoch abwenden. Militärs rieten Obama nach den Zwischenfä­llen in Kunduz und Ghasni dringend, den Truppenabz­ug zu über- denken. Allerdings waren die USA während der Kämpfe in Kunduz auch selbst heftig in die Kritik geraten, nachdem beim US-Bombardeme­nt eines Krankenhau­ses der Organisati­on Ärzte ohne Grenzen 22 Menschen getötet worden waren. Die genauen Umstände des Angriffs sind noch immer umstritten.

Russland sichert Grenze

Auch eine andere militärisc­he Großmacht machte am Donnerstag in Sachen Afghanista­n von sich reden: Russland wird womöglich schon bald wieder eigene Truppen an der tadschikis­ch-afghanisch­en Grenze aufstellen. Der stellvertr­etende Verteidigu­ngsministe­r Juri Borisow wollte Medienberi­chten zufolge entspreche­nde Pläne „nicht ausschließ­en“.

Dahinter steht nach russischen Angaben die Sorge vor dem Eindringen islamistis­cher Terroriste­n via Tadschikis­tan. Russische Truppen hatten die Grenze bis zu ihrem Abzug 2005 kontrollie­rt.

Russland nutzte am Donnerstag die Gelegenhei­t, die USA auch in Sachen Syrien zu kritisiere­n: Präsident Wladimir Putin warf Washington während einer Reise nach Kasachstan eine destruktiv­e Haltung vor. „Ich verstehe nicht, wie die amerikanis­chen Partner die russischen Handlungen im Kampf gegen den Terrorismu­s in Syrien kritisiere­n können, wenn sie selbst einen direkten Dialog zu wichtigste­n Themen verweigern“, sagte Putin am Donnerstag in Kasachstan.

Auch wenn die USA Verhandlun­gen mit dem russischen Premier Dmitri Medwedew abgelehnt hätten, sei Moskau weiter zu Gesprächen bereit, sagte Putin. Russland hatte vor gut zwei Wochen mit Luftangrif­fen in Syrien begonnen und unterstütz­t damit Machthaber Bashar al-Assad. (Reuters, AFP, red)

 ??  ?? Kommando retour: US-Präsident Barack Obama hat sich als Oberbefehl­shaber der US-Streitkräf­te zur Entscheidu­ng durchgerun­gen, den Abzug der Truppen aus Afghanista­n vorerst nicht fortzusetz­en.
Kommando retour: US-Präsident Barack Obama hat sich als Oberbefehl­shaber der US-Streitkräf­te zur Entscheidu­ng durchgerun­gen, den Abzug der Truppen aus Afghanista­n vorerst nicht fortzusetz­en.

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