Autor Christoph Hein über Flucht und Zensur
Heute, Freitag, und am Samstag stehen bei Literatur im Nebel in Heidenreichstein im Waldviertel Christoph Hein und sein Werk im Mittelpunkt. Ein Gespräch über Flucht, Zensur und Religion als Kultur.
Standard: Gerade feierte Deutschland das erste Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung. Wie ging es Ihnen mit dem frohen Fest? Hein: Ach, wir haben doch erst die erste Sekunde dieser Veränderung hinter uns. Der Fall der Mauer war ein Ereignis der größten Größenordnung, vergleichbar mit dem Fall des Römischen Reiches. Die Weltordnung ist immer noch am Rutschen. Nun haben wir es mit einem Versuch der früheren Ersten Welt zu tun, die Privilegien zu retten, etwa durch Handelsabkommen. Aber es gibt Dinge, gegen die es keinen Schutz gibt. Wieder haben wir es mit Mauern und Stacheldraht zu tun, nun aber sind es andere Flüchtlinge.
Standard: Sie weiten die Perspektive auf globale Zusammenhänge. Geht Deutschlands kleiner Jubel in Katastrophenstimmung unter? Hein: Ulbrichts gefürchtete Mauer ist das erfolgreichste Exportmodell der DDR: USA, Israel, SaudiArabien, Ungarn, überall werden Mauern und Zäune gebaut. Da gibt es jetzt wahnsinnig viel Heuchelei, früher sprach man von Fluchthelfern, nun sind das Schlepper. Werden wir in 50 Jahren wieder eine Beruhigung erreichen? Niemand weiß es. Die Flüchtlinge werden kommen.
Standard: Angela Merkel hat gesagt: „Wir schaffen das.“Und plötzlich steht sie in der Kritik: als Idealistin, bei der immer auch mitschwingt, dass sie jetzt doch wieder als Ostdeutsche spricht und nicht für das ganze Land. Hein: Das ist ein altes Muster, sobald was nicht in den Kram passt, verweist man auf ihre ostdeutsche Herkunft. Das ist Unsinn. Kein anderes Land hat eine bessere Konzeption. Wir können uns abschotten, aber wenn wir europäische Standards irgendwie halten wollen, haben wir keine Möglichkeit, uns dagegenzustellen. Da zeichnen sich Mittel ab, die wir noch vor 30 Jahren verachtet haben. Ich bin weit davon entfernt, ein gutes Wort über Orbán sagen zu wollen, aber Ungarn kann ja im Moment gar nichts richtig machen. Das Dublin-Abkommen war eine Heuchelei. Sollen Millionen in Ungarn bleiben?
Standard: Sie haben selbst Fluchterfahrungen. Sie kamen aus Breslau in die DDR, gingen ins Gymna- sium in Westberlin, waren in OstBerlin, als die Mauer kam. Ihre Flucht blieb unvollkommen – so als würde man heute in Ungarn steckenbleiben. Hein: Ich habe 1958 die DDR verlassen und landete dann doch auf der anderen Seite der Mauer. Danach gab es für viele Jahre nicht die Möglichkeit wegzugehen. 20 Jahre war die Mauer zu. Ich habe es durch Studium und Exmatrikulation erreicht, dass ich zum Theater kam und schreiben durfte. Dann setzte das Paradox der Zensur ein: Es gab ein paar Autoren, die die Leute besonders brauchten. Die ließ man auch weitgehend in Ruhe. Nach Tschernobyl wartete die Bevölkerung dringend auf das Statement von Christa Wolf: So etwas ist nur in einer Diktatur möglich. Diese Leute waren die Gegenposition zum Staat. Man hatte eine Funktion.
Standard: Sie schrieben anfangs Stücke, erst ab 1980 Prosa. „Drachenblut (Der fremde Freund)“ist bis heute Ihr bekanntestes Buch. Mögen Sie es noch? Hein: Ich habe mein ganzes Leben lang geschrieben, aber spät begonnen zu veröffentlichen. Ich muss mich da für nichts schämen, jugendliche Torheiten habe ich durch die Schwierigkeiten, in einer Diktatur zu veröffentlichen, vermieden.
Standard: Sie gelten als Pessimist. Hein: Pessimist bin ich ganz sicher nicht, aber illusionslos würde ich gern sein. Genauigkeit muss auch mitleidlos sein. Ein Arzt kann auch nicht in Tränen ausbrechen, wenn ein verunglücktes Kind auf seinem Tisch liegt. Er ist dazu da, sauber und kühl seine Arbeit zu machen und nicht mitzuleiden. Ich muss versuchen, auch die widerlichste Figur zu verstehen. Ich bin weder Ankläger noch Verteidiger und auch nicht Richter.
Standard: Ist von der Religiosität in Ihrem Elternhaus etwas ins Schreiben gewandert? Hein: In diesem pietistischen Glauben war ich nie befangen, mit 16 Jahren habe ich mich von der
Es gehört zum Menschen dazu, dass wir eine gewisse Klarheit vermeiden, weil sie nicht hilfreich ist.
Kirche verabschiedet. Das war schwierig, weil ich wusste, dass mein Vater es als eine persönliche Kränkung nehmen würde. Heute sehe ich Religion eher als Kultur. Wir sollten dankbar sein, dass es das für unsere Zivilisation gibt. Ich würde mich davor fürchten, in einer Gesellschaft zu leben, in der diese Schranke wegfällt, die durch die Drohung mit dem Jüngsten Gericht repräsentiert wird.
Standard: In einer Geschichte über Prometheus, einer Neudeutung des Mythos, schreiben Sie, dass er den Menschen die Hoffnung gab – als eine wertvolle Illusion. Hein: Prometheus hat den Menschen mehrfach geholfen, das Stehlen des Feuers erschien mir irgendwie nicht hinreichend. Also habe ich das so erfunden, dass er mit seiner Gabe der Hoffnung den Menschen über Realität hinweghelfen kann. Wir sind im Zweifel keine Realisten. Es gehört zum Menschen dazu, dass wir eine gewisse Klarheit vermeiden, weil sie nicht hilfreich ist. Das gilt auch für den Blick zurück
CHRISTOPH HEIN (71) wuchs in der damaligen DDR auf. Seinen Durchbruch hatte er 1982 mit der Novelle „Der fremde Freund“, die in Westdeutschland 1983 unter dem Titel „Drachenblut“erschien. Der mit zahlreichen Preisen geehrte Schriftsteller lebt in Berlin. p www.literaturimnebel.at