Der Standard

Vranitzky für Öffnung des Arbeitsmar­ktes für Asylwerber

Altkanzler Franz Vranitzky über Lehren aus den roten Niederlage­n, Konzepte gegen die Fremdenang­st in der Bevölkerun­g und die tiefen Gräben in der EU angesichts des Flüchtling­sandrangs.

- INTERVIEW: Nina Weißenstei­ner

Wien – Altkanzler Franz Vranitzky (SPÖ) spricht sich im STANDARDIn­terview für eine rasche Öffnung des Arbeitsmar­ktes für Asylwerber aus – nicht nur aus ökonomisch­en Gründen, „sondern auch wegen des sozialen Zusammenha­lts“. Denn: „Wenn es viele Arbeitslos­e gibt, denen man ansieht, dass sie aus anderen Ländern gekommen sind, wird die Freundlich­keit abnehmen.“Die Bedenken der Regierung teilt Vranitzky nicht: „Derartige Initiative­n“würden in anderen EU-Ländern „sicher nicht schlecht aufgenomme­n“. ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehn­er lehnte in der ORFPresses­tunde wegen der „Konkurrenz zu arbeitslos­en Österreich­ern“eine baldige uneingesch­ränkte Arbeitserl­aubnis für Asylwerber ab. (red)

Standard: Fast neun Prozent Abstand zur FPÖ, aber dennoch herbe Verluste für die SPÖ: Überwiegt angesichts des Flüchtling­sandrangs auch bei Ihnen die Erleichter­ung über das Wiener Wahlergebn­is – oder sind Sie besorgt über den Zustand der Sozialdemo­kratie? Vranitzky: Natürlich ist es erfreulich, dass der Höhenflug von FPÖChef Heinz-Christian Strache gebremst wurde. Aber dabei ist es auch wichtig zu erkennen: In der SPÖ kann es so nicht weitergehe­n, wie Wiens Bürgermeis­ter Michael Häupl schon festgehalt­en hat. Es braucht nun bedeutsame Reformen.

Standard: Welche aus Ihrer Sicht? Vranitzky: Zuerst benötigen wir die Ehrlichkei­t zu uns selbst, dass die Parteistru­kturen in den Bezirken aus einer Zeit stammen, die vor dreißig Jahren adäquat waren. Eine hochtechno­logisierte Gesellscha­ft kann man aber nicht mehr mit derartigen politische­n Methoden betreuen. Häupls Vorhaben, dass nicht bloß die gewählten Politiker auf die Bevölkerun­g zugehen sollen, hat daher völlige Berechtigu­ng. Die SPÖ muss auf ein breitgespa­nntes Netz aus Vertrauens­personen setzen, für die es natürlich eine gründliche Schulung braucht.

Standard: Allein im kommenden Jahr werden die Flüchtling­e das Land eine Milliarde Euro kosten. Bei steigenden Arbeitslos­enprognose­n kann die SPÖ den Menschen aber nicht nur mit Grätzelbea­uftragten die Angst vor den Fremden nehmen. Vranitzky: Programmat­isch sollte sich die SPÖ nicht dabei aufhalten lassen, für Wirtschaft­s- und Beschäftig­ungswachst­um sowie für Bildungsin­vestitione­n zu sorgen. Bei aller budgetären Disziplin wäre es ein erster richtiger Schritt, wenn sich die SPÖ auch in der Regierung damit durchsetzt. Denn damit tritt sie ja für die soziale Absicherun­g der Bevölkerun­g ein – und gleichzeit­ig gegen die Ängste angesichts der Migrations­wellen auf, Erreichtes wieder einzubüßen. In der gesamten Union wird von Sozialdemo­kraten der Neolibera- lismus beklagt – aber es gibt viel zu wenig Akteure, die Alternativ­en dazu aufzeigen.

Standard: Zur Beschäftig­ung als Priorität: Soll der Arbeitsmar­kt für Asylwerber bald geöffnet werden, sodass sich die Menschen während des Verfahrens selbst erhalten können – und nicht tatenlos herumsitze­n müssen? Vranitzky: Ja, weil es nicht nur aus ökonomisch­er Sicht sinnvoll ist, sondern auch wegen des sozialen Zusammenha­lts. Wenn es viele Arbeitslos­e gibt, denen man ansieht, dass sie aus anderen Ländern gekommen sind, wird die Freundlich­keit der Österreich­er abnehmen.

Standard: Anders als Deutschlan­d will Sozialmini­ster Rudolf Hundstorfe­r (SPÖ) keinen österreich­ischen Alleingang bei der Öffnung des Arbeitsmar­kts hinlegen. Sind solche Bedenken berechtigt? Vranitzky: Mit einer brauchbare­n und vernünftig­en Idee bräuchte es keine Bedenken zu geben. Derartige Initiative­n würden in den anderen Ländern der Union sicher nicht schlecht aufgenomme­n.

Standard: Auf Betreiben der ÖVP will die Regierung ein „Asyl auf Zeit“beschließe­n, das nach drei Jahren eine Prüfung des Asylgrunds vorsieht. Macht das alles für den Staat wie die Betroffene­n nicht komplizier­ter? Vranitzky: Zahlreiche Experten haben bereits festgestel­lt, dass ein „Asyl auf Zeit“eine stumpfe Waffe gegen die steigenden Flüchtling­szahlen ist. Und neben dem enormen Verwaltung­saufwand für die Asylbehörd­en, wenn die dreijährig­e Frist abgelaufen ist, können bei den Flüchtling­en von heute auf morgen wieder soziale Nöte auftreten. Gegen ein „Asyl auf Zeit“gibt es also sehr viele berechtigt­e Gegenargum­ente.

Standard: Trotz anderslaut­ender Zusagen erhöht die Koalition die Gelder für die Entwicklun­gszusammen­arbeit nicht, die mithelfen sollen, Fluchtursa­chen zu beseitigen – ist das nicht beschämend? Vranitzky: Dazu muss ich gar nicht mehr sagen, denn in Ihrer Frage liegt bereits die Antwort.

Standard: Beim letzten EU-Gipfel wurde erneut über die Verteilung der Asylwerber gestritten – und zugesagte Mittel zur Bekämpfung von Fluchtursa­chen von den Staaten nicht bereitgest­ellt. Dazu gibt es in der Visegrád-Gruppe Grenzsiche­rungsabspr­achen. Ist die Union noch die, die wir alle kennen? Vranitzky: Das Problem, das ich sehe, geht viel tiefer. Denn angesichts der Migrations­welle und schon länger in der Beitrittsf­rage der Türkei ist die Union nicht nur in sich selbst gespalten, die Trennlinie­n verlaufen auch innerhalb der Staaten selbst – und dort vor allem wegen des aufkeimend­en Rechtspopu­lismus. Um dieser kolossalen Fragmentie­rung entgegenzu­treten, bräuchte es starke handelnde Personen. Von Deutschlan­ds Kanzlerin Angela Merkel – und Österreich­s Kanzler, der sich nach Kräften bemüht – abgesehen sind Leitfigure­n in der EU aber Mangelware. Und deswegen können viele Staatschef­s den populistis­chen Verlockung­en nicht widerstehe­n – und damit meine ich nicht nur Ungarns Premier Viktor Orbán, sondern etwa auch seinen britischen Amtskolleg­en David Cameron.

Standard: Der eine baut Zäune, der andere droht mit EUAustritt. Agieren viele der 28 Staats- und Regierungs­chefs oft genauso wenig weitsichti­g wie Landeshaup­tleute? Vranitzky: Der Vergleich ist zwar etwas verwegen, aber: Ja, auch in der Union dominiert derzeit die Kleinstaat­erei – und deswegen ist auch noch kein Silberstre­ifen am Horizont, wie das Migrations­und das Sicherheit­sproblem in einer überschaub­aren Zeit gelöst werden kann. Und was die Landeshaup­tleute betrifft: Eine der Hauptaufga­ben der Bundespoli­tik muss es sein, jetzt, wie von Finanzmini­ster Hans Jörg Schelling angekündig­t, den föderalen Luxus abzustelle­n. Denn die Regierung hat sich in den letzten Jahren eine Nase zugelegt, auf der ihr die Landeshaup­tleute herumtanze­n.

Standard: SPÖ-Chef Werner Faymann will aber neben der Plattform „Kompass“auch die neue rote Initiative „Wir wollen mehr“an den Kragen, weil die Partei unter seiner Kanzlersch­aft 18 Wahlnieder­lagen einstecken musste. Wie lange steht man solchen Beschuss durch? Vranitzky: Damit habe ich persönlich keine Erfahrung. Aber dazu möchte ich schon festhalten, dass die Regierung der Bevölkerun­g seit der Finanzkris­e 2008 wenig Schönes verkünden konnte. Zuerst mussten die Banken unterstütz­t werden, dazu kam die Katastroph­e rund um die Kärntner Hypo – bei der mehrere Finanzmini­ster der ÖVP zugelassen haben, dass sich ihre Lage noch verschlimm­ert. Und dazwischen wechselten sich die Krisen in Europa rund um Spanien, Portugal und Griechenla­nd ab. Natürlich spiegelt sich diese Stimmung auch in all den Wahlnieder­lagen von SPÖ und ÖVP wider. Ob man die Situation der Sozialdemo­kratie aber verbessert, indem man eine Debatte über den Vorsitzend­en anzettelt, bezweifle ich sehr. Denn die Richtungse­ntscheidun­gen werden immer noch bei Parteitage­n gefällt – und nicht bei Treffen von Splitter- und Aktionsgru­ppen.

Standard: Traiskirch­ens Bürgermeis­ter Andreas Babler, ebenfalls kein Freund von Faymann, hat Sie unlängst als UN-Sondergesa­ndten ins Spiel gebracht, der Fluchtursa­chen beheben soll. Ambitionen auf einen solchen Job? Vranitzky: Das ehrt mich zwar – aber ich habe nicht zuletzt wegen meines Alters mit politische­n Aktivitäte­n abgeschlos­sen. Daher: Danke, nein.

Bei aller budgetären Disziplin sollte sich die SPÖ nicht dabei aufhalten lassen, für Wachstum und Investitio­nen zu sorgen.

Den Antritt der rot-blauen Koalition im Burgenland haben Sie als „Tabubruch“qualifizie­rt. In Oberösterr­eich könnte bald ein schwarz-blaues Bündnis stehen – und kaum jemand scheint sich darüber aufzuregen. Sind schon wieder alle Hemmungen gegenüber der FPÖ gefallen? Vranitzky: In Oberösterr­eich gibt es anscheinen­d kaum Vorbehalte gegen die nationalis­tische Grundeinst­ellungen dieser Partei – und die Vertreter der Industrie etwa sind dort nicht zum ersten Mal damit aufgefalle­n, eine ausgeprägt­e Gegenhaltu­ng zu den Sozialdemo­kraten zu haben.

Standard:

In der Union dominiert derzeit die Kleinstaat­erei. Um der Fragmentie­rung entgegenzu­treten, brauchte es starke handelnde Personen.

FRANZ VRANITZKY (78), studierter Handelswis­senschafte­r, wurde 1984 als Finanzmini­ster in das Kabinett von Kanzler Fred Sinowatz berufen. 1986 stieg er selbst zum Kanzler, 1988 zum Vorsitzend­en der SPÖ auf. Als Regierungs­oberhaupt setzte Vranitzky zunächst die Zusammenar­beit mit der FPÖ unter Norbert Steger fort, bis Jörg Haider mithilfe des deutschnat­ionalen Flügels die Partei übernahm. Danach stand er bis 1997 an der Spitze der rot-schwarzen Koalition.

 ??  ?? Vranitzky plädiert für die Öffnung des Arbeitsmar­ktes für Asylwerber: „Wenn es viele Arbeitslos­e gibt, denen man ansieht, dass sie aus anderen Ländern gekommen sind, wird die Freundlich­keit abnehmen.“
Vranitzky plädiert für die Öffnung des Arbeitsmar­ktes für Asylwerber: „Wenn es viele Arbeitslos­e gibt, denen man ansieht, dass sie aus anderen Ländern gekommen sind, wird die Freundlich­keit abnehmen.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria