Tot ist die Illusion, Europa braucht die Türkei gar nicht
Die Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara, zwischen Angela Merkel und Tayyip Erdogan, erfordern einen Blick zurück. Unter dem Einfluss der rotgrünen Regierung Deutschlands (Gerhard Schröder und Joschka Fischer) war auch in Brüssel die Bereitschaft groß, die Türkei in die EU aufzunehmen. Hauptargument war, was Joschka Fischer auch später in Vorträgen und Gastartikeln (u. a. in der STANDARD) verfocht, dass die geopolitische Position des ehemaligen Osmanen-Reichs nicht nur die Nato-Mitgliedschaft rechtfertigte, sondern auch jene in der Europäischen Union. Das war und ist gleichzeitig die Haltung der amerikanischen D Regierungen. ie Hauptgegner eines Vollbeitritts waren damals wie heute Österreich und Frankreich, unter Angela Merkel auch Deutschland. Wichtigstes Argument war und blieb die Behauptung, die Mitgliedschaft der Türkei würde die finanziellen Rahmen der EU sprengen. Dahinter aber verbarg sich stets die Angst vor dem Islam und der Blick auf die Umfragen – fast überall sprach sich eine Mehrheit gegen den Beitritt aus. Angela Merkel formulierte, als sie Bundeskanzlerin wurde, eine alternative Position. Sie sprach von einer „privilegierten Partnerschaft“.
Die Türkei fühlte sich trotzdem abgewiesen – vor allem, weil sie große Schritte Richtung Europa gemacht hatte, u. a. durch die Abschaffung der Todesstrafe und eine größere Akzeptanz der kurdischen Wünsche. Die EU bewegte sich kaum.
Erdogan zog daraus die von ihm längst schon favorisierten Konsequenzen. Als Ministerpräsident forcierte er einen zunehmend autoritären Kurs sowie eine Annäherung an islamistische Positionen – was zu den mittlerweile legendären Demonstrationen in Istanbul führte. Trotzdem gab er nicht nach, ließ sich zum Staatspräsidenten wählen und wollte über Wahlen die Verfassung zu seinen Gunsten ändern. Das verweigerten ihm die Wähler. Eine Koalitionsregierung mit den kurdenfreundlichen Kräften lehnte er ab, NeuwahlenD sind die Folge. ie Flüchtlingskrise, weder von der türkischen noch von der EU-Kommission in dieser Dramatik vorausgesehen, hat die Karten neu gemischt. Die Kurzsichtigen im EU-Europa müssen akzeptieren, dass die Problematik ohne Erdogan und dessen Exekutive nicht zu bewältigen ist. Ankara kann plötzlich Bedingungen einer „privilegierten Partnerschaft“diktieren – neben Milliardenhilfen die Visafreiheit und schnellere Verhandlungen in Brüssel.
Daran führt jetzt kein Weg mehr vorbei. Brüssel steckt in einem Dilemma: Einerseits wäre es eine riesige Entlastung, die Flüchtlinge bereits zu registrieren, wenn sie vor den Toren Europas angekommen sind. Andererseits sollte Brüssel auf die Rückkehr Ankaras zu rechtsstaatlichen Verhältnissen pochen. Und weiterhin auf die Akzeptanz des EU-Mitglieds Zypern durch Ankara.
Endgültig tot ist die Illusion, dass man sich die mehrheitlich islamische Türkei vom Leibe halten kann. Die geografischen Einwände (ist die Türkei ein Teil Europas oder nicht?) sind angesichts der Konflikte Schall und Rauch. gerfried.sperl@derStandard.at p derStandard.at/Sperl