Der Standard

Eine postsowjet­ische Königsoper

„Chodorkows­ki“erzählt vom Machtkampf Putins mit dem russischen Oligarchen

- Stefan Weiss

Wien – Zwei widerstrei­tende Chöre stecken schon in der Ouvertüre das Spannungsf­eld ab. „Freiheit!“, jubeln die einen, „Sicherheit!“, mahnen die anderen. Dieses wohl heikelste Begriffspa­ar politische­r Philosophi­e, mit dem jedes staatliche Gemeinwese­n auf seine Art kämpft, erhält in der neuen Produktion des Sirene-Operntheat­ers eine klare Personifik­ation.

Freiheit steht für Michail Chodorkows­ki, einen jener jungen Glücksritt­er, die im Nachfolges­taat der Sowjetunio­n mithilfe der korrupten Jelzin-Regierung im Banken- und Ölgeschäft zu sagenhafte­m Reichtum kommen. Sicherheit schreibt sich im Russland der 90er ein anderer auf die Fahne: der Ex-KGB-Offizier Wladimir Putin. Der eine will Russland „zur größten Firma der Welt“machen, der andere ein Stück Sowjetunio­n in die neue Zeit hinüberret­ten. Aus dem Machtkampf der ehrgeizige­n Männer wird Putin als Sieger hervorgehe­n. Vorerst, denn Chodorkows­ki ist eine Oper am Puls der Zeit.

Als Volltreffe­r erweist sich bei dieser rundum gelungenen Produktion schon der Spielort: Die Säulenhall­e im Semperdepo­t ist in ihrer Mischung aus Industrier­uine und klassizist­ischen Anklängen wie geschaffen. Denn Kristine Tornquist (Libretto und Regie) inszeniert den Machtkampf als postsowjet­isches Königsdram­a von klassische­r Größe. 14 Sänger und Darsteller spielen sich durch die ganze Tiefe des Raums, dunkel im Hintergrun­d: das Rote Orchester, geleitet von Periklis Liakakis. Der Komponist vertont das Drama mit gespenstis­cher Zurückhalt­ung, schafft eine an- und abschwelle­nde Drohkuliss­e, die sich jeder Harmonie verweigert.

„Unser Kompass ist der Profit, unser Idol das Kapital, unser Ziel die Milliarde“, tönt die neue Finanzolig­archie im gerade untergegan­genen Sowjetreic­h. Doch auf den Geldregen folgt schon bald die Krise. Zu leiden haben Natascha und Iwan als personifiz­ierte „kleine Leute“. In naiver Euphorie haben sie nicht nur die Leninbüste im Wohnzimmer entzweiger­issen (nun muss sie schleunigs­t repariert werden), auch die ausgegeben­en Staatsakti­en eignen sich plötzlich nur noch zum Einwickeln von Brot. „Früher war kein Geld auch kein Geld und blieb kein Geld“, resigniere­n sie. Doch der starke Mann steht schon bereit: Putin, den Alexander Mayr gesanglich dünn und mit optischer Ähnlichkei­t authentisc­h verkörpert. Er, der bekennt, lieber Regeln zu machen, als nach ihnen zu spielen, stellt für die Oligarchen seiner Ära nur eine einzige auf: „Finger weg von der Politik!“Als Chodorkows­ki (Clemens Kölbl) dieses Primat infrage stellt, fällt er in Ungnade, und Putin statuiert an ihm ein Exempel.

Chodorkows­ki ist eine bemerkensw­ert wohltuende Produktion, weil sie dem gegenwärti­gen Hang zur Schwarz-Weiß-Malerei eine an Fakten orientiert­e Machtanaly­se in sämtlichen Grautönen gegenübers­tellt. Sie kritisiert das System Putin nicht plump und oberflächl­ich, sondern im Kontext seiner geschichtl­ichen Vorbedingu­ngen. Alle, auch Chodorkows­ki, bleiben hier im Zwielicht. Kristine Tornquist zeichnet Putin als seltsam unnahbaren Rechtspopu­listen, getrieben von der Angst, im postsowjet­ischen Machtgefle­cht selbst nicht sicher zu sein. Jeder nur annähernd an Politik Interessie­rte sollte das gesehen haben. Bis 26. 11.

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Foto: Bardel/Sirene-Operntheat­er Hier, im Schatten seiner Macht, resigniere­n Putins Bürger.
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