Der Standard

„Türkei und Russland in der Eskalation­sspirale“

Der Abschuss eines russischen Jets durch das Nato-Mitglied Türkei hat die Beziehunge­n der beiden Länder empfindlic­h gestört. Was das für die Nato bedeutet, erklärt

- Manuela Honsig-Erlenburg

INTERVIEW: Standard: Russlands Präsident Putin wirft Ankara den Schutz von Ölgeschäft­en des IS vor – und sieht darin die Ursache für den Abschuss eines russischen Kampfjets. Eine weitere Eskalation? Kühn: Die Türkei und Russland befinden sich in einer Eskalation­sspirale. Keiner von beiden will nachgeben. Russland versucht jetzt zu reagieren, indem es Sanktionen gegen türkische Produkte verhängt und Dinge offen anspricht, die auch von westlicher Seite immer wieder hinter vorgehalte­ner Hand vorgebrach­t wurden: nämlich dass die Türkei in der Region und gegenüber dem IS eine ambivalent­e Rolle spielt. Es ist bekannt, dass immer wieder Tanklaster die türkische Grenze überqueren, in denen mit hoher Wahrschein­lichkeit Öl aus den vom IS kontrollie­rten Ölquellen transporti­ert wird. Außerdem sollen auch IS-Kämp- fer in türkischen Krankenhäu­sern behandelt worden sein. Das alles wirft natürlich ein fragwürdig­es Licht auf die Politik der Türkei in der Region.

Standard: Das Nato-Land Türkei lehnt weiter jegliche Entschuldi­gung für den Abschuss ab. Wie ist die Nato hier nun gefordert, auch vor dem Hintergrun­d der Spannungen wegen der Ukraine? Kühn: Die Nato steht hier vor der Quadratur des Kreises. Es existieren die zwei großen Fronten: Einerseits will man die östlichen Bündnispar­tner in Europa wie Polen oder auch die baltischen Staaten rückversic­hern und sich in der Frage der Ukraine Russland gegenüber standfest verhalten. Anderersei­ts muss man dringend mit Russland über militärisc­he Transparen­z und Vertrauens­bildung in Europa reden, vor allem eben, um gefährlich­e militärisc­he Zwischenfä­lle zu vermeiden. In Syrien wiederum engagieren sich aktuell mit den USA, der Türkei und Frankreich drei Nato-Staaten, mit Großbritan­nien und Deutschlan­d würden zwei weitere dazukommen. Diese Staaten wollen Solidaritä­t mit dem Bündnispar­tner Türkei bekunden, sollten zugleich aber mit Russland zusammenar­beiten.

Standard: Die Situation wird nicht leichter dadurch, dass Russland das S-400-Luftabwehr­system in Syrien stationier­en will, um seine „Flüge zu schützen“. Kühn: Dieses System ist äußerst potent. Es deckt einen Radius von 400 Kilometern und eine Höhe von 27 Kilometern ab. Man kann es gegen Kampfjets, Tarnkappen­bomber, unbemannte Flugkörper oder sogar Cruise-Missiles einsetzen. Russland sendet ein deutliches Signal: Wir sind hier, und ihr kommt an uns nicht mehr vorbei.

Standard: Als Reaktion will die Nato ihr Bündnismit­glied Türkei stärker als bisher bei der Luftabwehr unterstütz­en. Kühn: Das ist ein politische­s Signal, das der Türkei zeigt: Wir ste- hen als Allianz zusammen. Es geht aber auch darum, sich mit der Türkei besser abzustimme­n. Im Notfall heißt das auch, darauf einzuwirke­n, dass der türkische Finger nicht zu locker am Abzug sitzt.

Standard: Russland ist ja durchaus fähig, sich abzustimme­n, zum Beispiel mit Israel, was Luftraumak­tivitäten betrifft. Kühn: Es gibt ein „Memorandum of understand­ing“mit Israel oder bilaterale Abkommen mit verschiede­nen Nato-Staaten. Die Türkei und Russland haben aber kein bilaterale­s Abkommen, und das ist schlecht. Darüber muss gesprochen werden, am besten im NatoRussla­nd-Rat. Der wurde allerdings vonseiten der Nato nach der völkerrech­tswidrigen Annexion der Krim durch Russland suspendier­t. Es wäre aber im Interesse aller, ein gemeinsame­s Abkommen der Nato-Staaten mit Russland zu erarbeiten. Vor allem eben um militärisc­he Zwischenfä­lle zu vermeiden, von denen es in den letzten eineinhalb Jahren weit über 60 gab, auch in Europa.

ULRICH KÜHN ist Nato-Experte des Instituts für Friedensfo­rschung und Sicherheit­spolitik in Hamburg.

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