„Türkei und Russland in der Eskalationsspirale“
Der Abschuss eines russischen Jets durch das Nato-Mitglied Türkei hat die Beziehungen der beiden Länder empfindlich gestört. Was das für die Nato bedeutet, erklärt
INTERVIEW: Standard: Russlands Präsident Putin wirft Ankara den Schutz von Ölgeschäften des IS vor – und sieht darin die Ursache für den Abschuss eines russischen Kampfjets. Eine weitere Eskalation? Kühn: Die Türkei und Russland befinden sich in einer Eskalationsspirale. Keiner von beiden will nachgeben. Russland versucht jetzt zu reagieren, indem es Sanktionen gegen türkische Produkte verhängt und Dinge offen anspricht, die auch von westlicher Seite immer wieder hinter vorgehaltener Hand vorgebracht wurden: nämlich dass die Türkei in der Region und gegenüber dem IS eine ambivalente Rolle spielt. Es ist bekannt, dass immer wieder Tanklaster die türkische Grenze überqueren, in denen mit hoher Wahrscheinlichkeit Öl aus den vom IS kontrollierten Ölquellen transportiert wird. Außerdem sollen auch IS-Kämp- fer in türkischen Krankenhäusern behandelt worden sein. Das alles wirft natürlich ein fragwürdiges Licht auf die Politik der Türkei in der Region.
Standard: Das Nato-Land Türkei lehnt weiter jegliche Entschuldigung für den Abschuss ab. Wie ist die Nato hier nun gefordert, auch vor dem Hintergrund der Spannungen wegen der Ukraine? Kühn: Die Nato steht hier vor der Quadratur des Kreises. Es existieren die zwei großen Fronten: Einerseits will man die östlichen Bündnispartner in Europa wie Polen oder auch die baltischen Staaten rückversichern und sich in der Frage der Ukraine Russland gegenüber standfest verhalten. Andererseits muss man dringend mit Russland über militärische Transparenz und Vertrauensbildung in Europa reden, vor allem eben, um gefährliche militärische Zwischenfälle zu vermeiden. In Syrien wiederum engagieren sich aktuell mit den USA, der Türkei und Frankreich drei Nato-Staaten, mit Großbritannien und Deutschland würden zwei weitere dazukommen. Diese Staaten wollen Solidarität mit dem Bündnispartner Türkei bekunden, sollten zugleich aber mit Russland zusammenarbeiten.
Standard: Die Situation wird nicht leichter dadurch, dass Russland das S-400-Luftabwehrsystem in Syrien stationieren will, um seine „Flüge zu schützen“. Kühn: Dieses System ist äußerst potent. Es deckt einen Radius von 400 Kilometern und eine Höhe von 27 Kilometern ab. Man kann es gegen Kampfjets, Tarnkappenbomber, unbemannte Flugkörper oder sogar Cruise-Missiles einsetzen. Russland sendet ein deutliches Signal: Wir sind hier, und ihr kommt an uns nicht mehr vorbei.
Standard: Als Reaktion will die Nato ihr Bündnismitglied Türkei stärker als bisher bei der Luftabwehr unterstützen. Kühn: Das ist ein politisches Signal, das der Türkei zeigt: Wir ste- hen als Allianz zusammen. Es geht aber auch darum, sich mit der Türkei besser abzustimmen. Im Notfall heißt das auch, darauf einzuwirken, dass der türkische Finger nicht zu locker am Abzug sitzt.
Standard: Russland ist ja durchaus fähig, sich abzustimmen, zum Beispiel mit Israel, was Luftraumaktivitäten betrifft. Kühn: Es gibt ein „Memorandum of understanding“mit Israel oder bilaterale Abkommen mit verschiedenen Nato-Staaten. Die Türkei und Russland haben aber kein bilaterales Abkommen, und das ist schlecht. Darüber muss gesprochen werden, am besten im NatoRussland-Rat. Der wurde allerdings vonseiten der Nato nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland suspendiert. Es wäre aber im Interesse aller, ein gemeinsames Abkommen der Nato-Staaten mit Russland zu erarbeiten. Vor allem eben um militärische Zwischenfälle zu vermeiden, von denen es in den letzten eineinhalb Jahren weit über 60 gab, auch in Europa.
ULRICH KÜHN ist Nato-Experte des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg.