Der Standard

72 Bedingunge­n für die Visafreihe­it der Türken

Türkische EU-Experten und Kommentato­ren sehen das Gipfelerge­bnis nüchtern

- Markus Bernath

Ahmet Davutoglu schwebte auf einer Wolke. Er habe die Staats- und Regierungs­chefs der EU zum ersten Mal einig und positiv in der Frage des türkischen Beitritts gefunden, sagte der neue alte Premiermin­ister nach dem Gipfel in Brüssel. Sogar Österreich habe seinen Widerstand aufgegeben und die Aufhebung des Visazwangs unterstütz­t, so zitierte am Dienstag die regierungs­nahe Tageszeitu­ng Türkiye den Premier. Türkische EU-Experten und Kommentato­ren, die sich näher mit den Beitrittsv­erhandlung­en befassen, zeigen sich allerdings zurückhalt­ender.

So wies der proeuropäi­sche Istanbuler Thinktank IKV auf die Liste von nicht weniger als 72 Vorgaben hin, die das Land noch zu erfüllen habe, bis der Visazwang für Reisen in die EU tatsächlic­h fallen könnte. Neben der Neuausgabe von Reisepässe­n für alle Türken – die erst 2010 eingeführt­en biometrisc­hen Ausweise fand die EU-Kommission unzureiche­nd – geht es vor allem auch um die Umsetzung des 2013 unterzeich­neten und 2014 ratifizier­ten Abkommens mit der EU zur Rücknahme illegaler Einwandere­r.

Unklarheit zu Visafreihe­it

Anders als der türkischen Öffentlich­keit vermittelt worden sei, beginne das visafreie Reisen nach Europa auch nicht einfach im Oktober 2016, stellt die Stiftung für wirtschaft­liche Entwicklun­g (IKV) klar. Geplant ist vielmehr, dass die EU-Innenminis­ter zu diesem Zeitpunkt bewerten, ob und wie die Türkei die Bedingunge­n für die Aufhebung des Visazwangs erfüllt hat. Wofür Brüssel zuvor zwei Jahre angesetzt hatte, genügte plötzlich knapp ein Jahr, merkt man beim IKV ironisch an.

Prinzipien­reiter wie Harun Gümrükçü, Professor für Internatio­nale Beziehunge­n an der Akdeniz-Universitä­t in Antalya, werteten den Brüsseler Gipfel vom vergangene­n Sonntag sogar als Niederlage für die Türkei: Davutoglu habe das Kapital verspielt, das in den zurücklieg­enden Jahren durch europäisch­e Gerichtsen­t- scheidunge­n zugunsten türkischer Staatsbürg­er und deren Recht auf visafreies Reisen aufgebaut worden sei. Die Türkei brauche gar keinen „Fahrplan“zur Aufhebung des Visazwangs, argumentie­rt Gümrükçü, sie könne das vor Gericht erstreiten. Der Professor beruft sich auf das Assoziatio­nsabkommen von 1963 zwischen der Türkei und der EWG. Die Serie der für die Türken günstigen Rechtsents­cheidungen ging jedoch 2013 zu Ende; damals entschied der Europäisch­e Gerichtsho­f in Luxemburg gegen die türkische Studentin Leyla Demirkan, die ihren Stiefvater in Deutschlan­d besuchen wollte – ohne Visum.

Kommentato­ren in den verblieben­en regierungs­kritischen Zeitungen wollen in dem Gipfeltref­fen vom Sonntag auch keinesfall­s den „großen Sieg“der Türkei erkennen. Brüssel habe die Kopenhagen-Kriterien und das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung beiseitege­stellt und Ankara drei Milliarden Euro versproche­n, damit es keine syrischen Flüchtling­e mehr nach Europa lässt, schrieb Asli Aydintaşba­ş in der Tageszeitu­ng Cumhuriyet. Deren Chefredakt­eur und Ankara-Bürochef waren vergangene­n Freitag wegen Spionage verhaftet worden; sie hatten über mutmaßlich­e Waffenlief­erungen des türkischen Geheimdien­stes an Rebellen in Syrien berichtet.

Trotz des offenkundi­g besseren Klimas zwischen der Türkei und der EU wurden schließlic­h auch Zweifel an den seit zehn Jahren laufenden Beitrittsv­erhandlung­en selbst laut. Von einer „Schließung“bereits verhandelt­er Kapitel wolle Brüssel nichts hören.

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Foto: Reuters / Yves Herman Handschlag­qualität: Davutoglu (li.) und Ratschef Tusk in Brüssel.

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