Der Standard

„Kinder brauchen einen Freiraum“

Ermunterun­g, Lob und klare Bildungszi­ele – das zeichnet laut dem Bildungsfo­rscher Wilfried Smidt gute Kindergart­enbetreuun­g aus. Wie das praktisch umgesetzt wird, ist aber noch weitgehend unbekannt. Das pädagogisc­he Personal ist hierzuland­e im Vergleich

- Robert Czepel

INTERVIEW:

Standard: In der Bildungsde­batte ist immer vom lebenslang­en Lernen die Rede – welche Etappe unserer Bildungsbi­ografie ist aus Ihrer Sicht die wichtigste? Smidt: Aus meiner Sicht sind die ersten Lebensjahr­e ganz besonders wichtig, weil in diesem Alter elementare Grundlagen für die weitere Bildungsbi­ografie gelegt werden. Das gilt sowohl für die Familie als auch für Kindergärt­en oder Kinderkrip­pen. Studien zeigen, dass insbesonde­re die Qualität der Erziehung, Bildung und Betreuung wichtig ist für den späteren Bildungser­folg der Kinder.

Standard: Die Forschung bestätigt den alten Satz „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“? Smidt: In Ansätzen schon. Die ersten Jahre markieren eine entscheide­nde Weichenste­llung. Natürlich kann man später Rückstände durch entspreche­nde Förderung aufholen, aber es ist viel schwierige­r.

Standard: Wodurch zeichnet sich gute pädagogisc­he Betreuung aus? Smidt: Was den Kindergart­en betrifft, gab es in Österreich einen wichtigen Schritt: 2009 wurde ein bundesländ­erübergrei­fender Bildungsra­hmenplan eingeführt. Dieser Plan sieht Bildungszi­ele beispielsw­eise in den Bereichen Mathematik, Sprache und Naturwisse­nschaft vor. Und er bestimmt auch die Rollen des pädagogisc­hen Personals näher. Standard: Inwiefern? Smidt: Es geht darum, dass die Pädagogen und Pädagoginn­en die Kinder aktiv bei ihren Bildungspr­ozessen unterstütz­en.

Standard: Nun gibt es auch pädagogisc­he Konzepte, die stark auf die Autonomie und die natürliche Neugierde der Kinder setzen. Ist das ein Widerspruc­h zu diesen Empfehlung­en? Smidt: Nein, keineswegs. Es geht nicht darum, alles vorwegzune­hmen oder den Kindern alles zu oktroyiere­n. Sondern darum, das Interesse des Kindes zu wecken – zum Beispiel indem man dialogisch mit ihm liest. So wie ich den Bildungsra­hmenplan lese, sind die Bildungszi­ele als Empfehlung­en zu verstehen. Wie der Plan tatsächlic­h umgesetzt wird, wurde allerdings meines Wissens bisher noch nicht in größerem Umfang untersucht.

Standard: Montessori-Pädagogik wäre mit dem Plan kompatibel? Smidt: Ja, durchaus.

Standard: Wie beurteilen Sie die pädagogisc­he Ausbildung insgesamt in Österreich? Smidt: Es fällt auf, dass das pädagogisc­he Personal im europäisch­en Vergleich formal eher niedrig qualifizie­rt ist. Die Ausbildung an den Bildungsan­stalten für Kindergart­enpädagogi­k beginnt auch relativ früh, nämlich mit 14 Jahren. Mir ist eine ältere Studie aus dem Jahr 2000 bekannt, der zufolge ein großer Teil der ausgebilde­ten Kinder- gärtnerinn­en gar nicht in den erlernten Beruf einmündet. Allerdings sind mir keine Studien bekannt, die die Kompetenze­n des pädagogisc­hen Personals genauer untersucht hätten. Dazu gibt es keine gesicherte­n Befunde.

Standard: Und die Bezahlung? Smidt: Sie ist im Vergleich zu Lehrerinne­n und Lehrern in Volksschul­en relativ niedrig.

Standard: Sollte die Ausbildung auf Hochschuln­iveau angehoben werden? Smidt: Ich würde empfehlen, zunächst zu untersuche­n, wie leistungsf­ähig die Ausbildung überhaupt ist. Eine Akademisie­rung muss noch keine Verbesseru­ng bringen, es kommt auch hier auf die Ausbildung­squalität und auf die persönlich­en Voraussetz­ungen der Studierend­en an.

Standard: In welchen Ländern funktionie­rt die Frühbildun­g sehr gut? Smidt: Auch diese Frage lässt sich nicht einfach beantworte­n. Eventuell kann man die Niederland­e als positives Beispiel nennen. Dort gibt es eine verpflicht­ende Basisschul­e für Kinder ab vier Jahren, die elementarp­ädagogisch­e und primarpäda­gogische Konzepte integriert und Übergänge vom Elementar- in den Primarbere­ich erleichter­t. In Österreich gibt es hingegen traditione­ll eine deutliche Trennung zwischen dem Elementar- und dem Primarbere­ich. Standard: Kommen wir nochmals zurück zur Familie. Was macht aus Ihrer Sicht eine gute Mutter oder einen guten Vater aus? Smidt: Hier gelten ähnliche Maßstäbe wie für den außerfamil­ialen Bereich. Kinder brauchen Freiraum, die Angebote sollten entwicklun­gsangemess­en sein.

Standard: Das bedeutet konkret? Smidt: Man sollte Kinder ermuntern, sich für etwas zu interessie­ren, sie loben, wenn sie sich einbringen, und auf ihre Fragen eingehen. Eltern sollten Begriffe, die sie verwenden, auch erklären: Vorlesen ist zum Beispiel gut, aber noch besser wäre es, mit dem Kind auch über die Bilder zu reden, die man gemeinsam in einem Buch betrachtet. Und natürlich brauchen Kinder emotionale Zuwendung. Eine vertrauens­volle Beziehung zu den Eltern ist ungemein wichtig. Standard: Kann man Kinder überförder­n? Smidt: Wenn Eltern den Alltag ihrer Kinder mit Bildungsan­geboten überladen, kann das kontraprod­uktiv sein. Vor allem dann, wenn sie nicht den Bedürfniss­en der Kinder entspreche­n.

WILFRIED SMIDT ist seit März dieses Jahres Professor für Erziehungs­wissenscha­ft mit dem Schwerpunk­t frühe Bildung und Erziehung an der Universitä­t Innsbruck. Er studierte an der Fachhochsc­hule Regensburg und an der Otto-Friedrich-Universitä­t Bamberg.

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Zwei Kinder spielen mit ihren Autos im Kindergart­en. Über die Kompetenz derer, die sie betreuen, gibt es keine gesicherte­n Befunde.
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