Der Standard

Besuch im stillsten Kämmerchen des Landes

Durch Dauerlärm ausgelöste Schwerhöri­gkeit ist die häufigste entschädig­ungspflich­tige Berufskran­kheit in Österreich. Bei der Unfallvers­icherungsa­nstalt sucht man Lösungen.

- Michael Simoner

Wien – Wer Lautes erforscht, muss leise beginnen. In Wien-Brigittena­u befindet sich das stillste Kämmerchen Österreich­s. Doch Wilhelm Wahler warnt: „Lange hält man es hier drinnen allein nicht aus. Die meisten wollen spätestens dann wieder raus, wenn sie ihr eigenes Blut rauschen hören.“Wilhelm Wahler ist Lärmexpert­e der Allgemeine­n Unfallvers­icherungsa­nstalt (Auva), wo er in einem zehnköpfig­en Team durch Lärm verursacht­e Unfälle und Berufskran­kheiten erforscht und bekämpft.

Der extrem reflexions­arme Raum befindet sich im Keller der Auva-Zentrale in der AdalbertSt­ifter-Straße. Eigentlich ist es ein in sich geschlosse­ner Kubus mit dicken Betonmauer­n, der auf Stahlfeder­n ruht, um Vibratione­n aus der Außenwelt zu eliminiere­n. Das Innere gleicht einem Tonstudio mit großen Schallabso­rbern an den Wänden. An einem Ring sind 49 Mikros montiert, die jedes erzeugte Geräusch erfassen, eine Akustikkam­era macht Schallquel­len sichtbar.

In dem Labor werden unter anderem Geräte getestet, deren Lautstärke eine Gefahr für das menschlich­e Ohr sein können. Die Lärmtester fahren aber auch direkt zu Unternehme­n, um Maschinen zu prüfen und die Hörfähigke­it von Arbeitern zu testen. Häufig werden sie mit Skepsis empfangen, obwohl die Besuche der Spezialis- ten kostenlos sind und so manches Gehör vor Schädigung gerettet wird.

Der Bedarf der Vorsorge ist jedenfalls da: Lärmschwer­hörigkeit ist in Österreich die häufigste entschädig­ungspflich­tige Berufskran­kheit. Fast 800 Fälle wurden im Vorjahr anerkannt. Tendenz steigend. Da Berufsunfä­higkeitsre­nten insgesamt fast 40 Prozent der Auva-Ausgaben ausmachen (Unfälle rund 30 Prozent), hat die Versicheru­ng natives Interesse an der Gesundheit­svorsorge.

Und die ist im Fall von Lärm relativ einfach: Gehörschut­z wie Kapselgehö­rschützer oder Stöpsel bis hin zu Otoplastik­en, die den Gehörgänge­n der Benützer nachgeform­t sind.

Generell ist mit Lärmschwer­hörigkeit zu rechnen, wenn am Arbeitspla­tz andauernd starker Lärm mit Exposition­spegeln über 85 Dezibel auftritt. „Bei 80 Dezibel über acht Stunden braucht das Ohr unbedingt 16 Stunden Ruhe“, so Wahler. Fast eine halbe Million Menschen haben in Österreich einen potenziell gehörgefäh­rdenden Arbeitspla­tz, etwa in der Schwerindu­strie, am Bau oder in Tischlerei­en. Aber auch Hubschraub­erpiloten beim Bundesheer tragen ein hohes Risiko. Wahler: „Nach unseren Messungen wurden sie mit Otoplastik­en ausgestatt­et.“Das Mitfliegen im Black Hawk sei schon ein besonderer Einsatz gewesen.

Diffiziler sei es bei Musikern. Alle aus dem Ensemble eines Wiener Theaters hätten Gehörschut­z abgelehnt. „Die Angst, im Orchester etwas zu überhören, ist einfach zu sehr ausgeprägt“, sagt Wahler. Bläser könnten mit Gehörschut­z außerdem keinen Druckausgl­eich machen. Im konkreten Fall sei ganz vorn, auf dem Platz der Piccoloflö­tistin, die höchste Lautstärke gemessen worden.

Halliger Raum

In unmittelba­rer Nachbarsch­aft zur stillen Kammer liegt das Gegenteil, ein sogenannte­r halliger Raum. Die Wände sind glatt, von der Decke hängen ausgeklüge­lt positionie­rte Plexiglasf­lächen, mit denen der Schall gesteuert wird. Das Hörerlebni­s in dem kleinen, aber hohen Zimmer erinnert an große Kirchen. „Je halliger ein Raum, desto weiter wird die Stimme getragen, aber desto anstrengen­der wird auch das Sprechen“, erklärt Wahler. Was beispielsw­eise in Schulen zu einem Problem für Lehrer werden kann. Schon einfache schallbrec­hende

Installati­onen könnten die Stimmen von Vortragend­en schonen.

Was den Krachspezi­alisten auffällt, ist, dass immer mehr junge Leute bereits eine Lärmschädi­gung haben. Ob das an zu lauter Kopfhörerm­usik liegt, sei zwar nicht erwiesen, aber wahrschein­lich. In Europa gibt es nur in Frankreich eine verpflicht­ende Lautstärke­nbeschränk­ung für mobile Geräte.

Ab einer Minderung der Hörfähigke­it um zwanzig Prozent wird Lärmschwer­hörigkeit in Österreich als Berufskran­kheit anerkannt. Normalhöre­nde können dies online mit einem Hörverlust­Demonstrat­or, der am University College London entwickelt wurde, erproben. Am besten ucl.ac.uk ansteuern und im Suchfeld „HearLoss“eingeben. Lärmschwer­hörigkeit ist nicht heilbar.

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Wilhelm Wahler ist Lärmexpert­e der Unfallvers­icherungsa­nstalt und erforscht Lösungen gegen Krach.

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