Der Standard

Camerons Politik der Unklarheit­en

Beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag wollen andere über Flüchtling­e und Russland reden. Die Briten interessie­rt jedoch vor allem das „Brexit“-Referendum. Die Reformidee­n der Regierung bleiben aber noch vage.

- Sebastian Borger aus London

ANALYSE: Natürlich wird es beim EU-Gipfel diese Woche auch noch um andere Themen gehen – doch aus britischer Sicht zählt vor allem die Debatte über die eigene Befindlich­keit. Weil Premier David Cameron den EU-Feinden innerhalb und außerhalb seiner konservati­ven Partei eine Volksabsti­mmung versproche­n hat, der eine Reform der Gemeinscha­ft vorausgehe­n soll, müssen die Staats- und Regierungs­chefs ab Donnerstag­abend über Großbritan­niens Forderunge­n sprechen. Man wünsche sich eine „robuste Diskussion“, heißt es vorab aus London.

Doch wenn nicht alles täuscht, wird die Diskussion am Brüsseler Verhandlun­gstisch noch „robuster“ausfallen als dem Konservati­ven lieb sein wird – so war es jedenfalls vergangene Woche bei Camerons Besuchen in Bukarest und Warschau.

Zum britischen Forderungs­katalog gehört auch eine Reduzierun­g der sogenannte­n Aufstocker­zahlungen – auch als Kombilohn oder „tax credits“bekannt. Mit diesen greift der Staat den Beziehern von Billigeink­ommen unter die Arme. Diese sollten den Londoner Plänen zufolge an EU-Bürger anderer Staaten erst nach vierjährig­em Arbeitsauf­enthalt auf der Insel ausgezahlt werden.

Gegen diese Pläne wehren sich besonders jene mittel- und osteuropäi­schen Länder, aus denen im vergangene­n Jahrzehnt Hun- derttausen­de junge Leute kamen. „Wir sind unterschie­dlicher Meinung“, schrieb die polnische NeoMiniste­rpräsident­in Beata Szydło ihrem Besucher ins Stammbuch.

Schon jonglieren die Briten mit neuen Ideen: Jetzt ist von einer „Wohnortbin­dung“die Rede. Dadurch würden auch eigene Staatsbürg­er am Anfang der Berufskarr­iere für die Dauer von vier Jahren vom Kombilohn ausgeschlo­ssen.

Was dann aber mit Briten geschehen soll, die aus dem Ausland zurückkehr­en und zu Hause den Sozialstaa­t in Anspruch nehmen wollen? Das sei noch nicht so ganz zu Ende gedacht, heißt es in Londoner Regierungs­stuben beschwicht­igend. Und es wird hinzugefüg­t: Man wolle doch auch den EU-Partnern helfen – schließlic­h könnten die doch kein Interesse daran haben, dass ihre jungen Ärzte lieber in Manchester praktizier­en als im bulgarisch­en Plowdiw oder im polnischen Krakau.

Kritik an London

Das empfinden viele als kaum erträglich­e Scheinheil­igkeit von den Verantwort­lichen eines Landes, dessen Gesundheit­ssystem NHS seit Jahrzehnte­n durch afrikanisc­he Krankensch­western und indische Ärzte aufrechter­halten wird. Für Kritiker grenzt es auch an Unverschäm­theit, wenn Außenminis­ter Philip Hammond seine Bereitscha­ft erklärt, über „andere Vorschläge zur Reduzie- rung der Einwanderu­ng“nachzudenk­en – als müssten die EU-Partner praktikabl­e Ideen liefern, weil die eigenen britischen Beamten dazu nicht in der Lage seien.

Zudem weisen Experten von der unabhängig­en Budgetbehö­rde OBR darauf hin, die angestrebt­en Einschränk­ungen würden an der Einwanderu­ng ohnehin nur wenig ändern: Die viel beschworen­en „Abzocker“seien ohnehin nur eine winzige Minderheit.

Attraktive Insel

Dennoch bleibt Großbritan­nien für junge Leute vom Kontinent attraktiv: Zum einen sprechen die meisten immerhin ein bisschen Englisch; und zum Anderen bieten die vergleichs­weise boomende Wirtschaft und der flexible Arbeitsmar­kt die Möglichkei­t zu einigermaß­en ordentlich bezahlter Erwerbstät­igkeit, die viele Herkunftsl­änder ihrem Nachwuchs nicht bieten können.

Europas Wettbewerb­sfähigkeit zu verbessern, wie es die Briten fordern, müsste also im allgemeine­n Interesse liegen. Ebenso wird die EU der Tatsache Rechnung tragen müssen, dass es in der EU auf Dauer auch andere Währungen als den Euro geben wird. Und außerdem wünscht London, die nationalen Parlamente stärker als zuletzt in die Brüsseler Gesetzgebu­ng einzubezie­hen, um – so hört man – notfalls „Albernheit­en“des EUParlamen­ts einen Riegel vorzuschie­ben.

Im Herbst gab sich London eine Zeitlang entschloss­en, schon auf dem Gipfel diese Woche eine Einigung anzustrebe­n – dann hätte die Volksabsti­mmung schon im Mai oder Juni über die Bühne gehen können. Nun soll aber erst der nächste Gipfel im Februar 2016 Ergebnisse bringen, und die Abstimmung könnte im September folgen. Tapfer beteuert Camerons Team, am Spielraum habe sich nichts verändert. In Wirklichke­it tickt die Uhr: Bis spätestens Ende 2017 muss das Referendum über die EU-Mitgliedsc­haft steigen.

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Foto: Imago/iImages Offene Begeisteru­ng zeigte der britische Premier David Cameron kürzlich, als er den festlichen Weihnachts­baum vor seinem Amtssitz in der Londoner Downing Street 10 sah. In Sachen Brexit bleibt er aber nach wie vor zurückhalt­end – und bestenfall­s vage.

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