Der Standard

„Fortgesetz­te Traumatisi­erung“durch Asylpoliti­k

Schätzunge­n zufolge ist jeder zweite Flüchtling potenziell psychisch krank. Aufgrund von Erlebnisse­n im Herkunftsl­and und auf der Flucht, aber auch wegen der Lebensumst­ände nach der Ankunft, sagen Therapeute­n. Sie fordern den Staat zum Handeln auf.

- Katharina Mittelstae­dt

Innsbruck/Wien – Flucht hinterläss­t auch Spuren in der Psyche. Jeder zweite Flüchtling und jedes dritte Kind sei psychisch krank, sagt der Präsident der deutschen Psychother­apeutenkam­mer. „Zumindest potenziell“, schränkt Marion Kremla ein, die in der Asylkoordi­nation Österreich für die Psychother­apiezentre­n zuständig ist. Fest stehe jedenfalls: „Das Thema wird noch viel zu wenig ernst genommen.“

Österreich­weit gibt es derzeit zehn Zentren für interkultu­relle Psychother­apie – in jedem Bundesland eines und zwei in Wien. Dort wird gemeinsam mit Dolmet- schern „traumaspez­ifische und kultursens­ible“Therapiear­beit angeboten. Für rund 30.000 neu ankommende Flüchtling­e seien dort Anfang des Jahres die Mittel veranschla­gt, doch bis jetzt nicht aufgestock­t worden. „Schon für diese Zahl an Menschen hätten unsere Kapazitäte­n kaum gereicht“, sagt Kremla. Angesichts der aktuellen Situation komme man nun gar nicht mehr zurande.

Chronische Angst ist Alltag

Die psychische Odyssee der Flüchtende­n beginnt oft schon vor Antritt der Reise: „Für Menschen in Kriegs- und Krisengebi­eten ist chronische Angst der Alltag“, sagt Verena Berger-Kolb, Vorsitzend­e des Tiroler Landesverb­andes für Psychother­apie. „Sie sind über lange Zeit von Unterdrück­ung, Vertreibun­g, Hunger, Folter oder akuter Lebensgefa­hr bedroht.“Danach setze sich die Traumatisi­erung auf der Flucht fort.

Ausgang ungewiss

In den österreich­ischen Therapieze­ntren, sagt Kremla, sei das Hauptthema in den Sitzungen jedoch die aktuelle Situation der Betroffene­n: „Wir helfen vorrangig beim Aushalten der Lebensumst­ände hier.“Die meisten Flüchtling­e würden im Glauben ankommen, dass sie nach zwei Monaten anerkannt werden und dann ihre Familien nachholen können. Die Realität sehe dann plötzlich ganz anders aus.

Besonders belastend sei die Situation für Flüchtling­e, die nicht aus Syrien oder Afghanista­n kommen, da sich deren Verfahren besonders lange ziehen und der Ausgang bis zuletzt ungewiss bleibe.

„Die Menschen wollen nach vorne schauen. Sie kommen, um ihr Leben in die Hand zu nehmen, doch die Unsicherhe­it nimmt kein Ende“, sagt Kremla. Sie hätte natürlich gerne mehr Geld für ihre Psychother­apiezentre­n zur Verfügung, die „Lösung erster Ordnung“müsse jedoch eine andere sein: „Hätten wir schnellere und menschenwü­rdige Asylverfah­ren, gäbe es ausreichen­d Deutschkur­se und würde man Asylwerber­n Zugang zum Arbeitsmar­kt gewähren, könnten wir uns die Kosten vieler Therapiest­unden sparen.“

Auch die Psychother­apeutin Berger-Kolb warnt vor den Folgen einer „fortgesetz­ten Traumatisi­erung“, wenn Flüchtling­e nicht behandelt werden. Allein in Tirol warten derzeit rund 5100 Menschen auf eine Entscheidu­ng im Asylverfah­ren. Für Kinder und Jugendlich­e würden die Therapiemö­glichkeite­n „fast gänzlich“fehlen. Traumata könnten aber auch „erst nach Jahrzehnte­n“wieder hochkommen, wenn die Erlebnisse verdrängt werden.

„Wir wissen genau, wie wichtig eine frühzeitig­e psychother­apeutische Behandlung ist. Nach Unfällen steht auch sofort ein Kriseninte­rventionst­eam bereit“, sagt Berger-Kolb. Würde ein Trauma nicht behandelt, könne das eine posttrauma­tische Belastungs­störung, Albträume, Angstzustä­nde und sämtliche körperlich­e Erkrankung­en auslösen – „bis hin zur Suizidgefa­hr“.

Verständig­ungsschwie­rigkeit

Es gehe in dieser Debatte auch ganz generell um „barrierefr­eien Zugang zum Gesundheit­ssystem“, sagt Gabriele Mantl, Leiterin des Zentrums für interkultu­relle Psychother­apie in Tirol. Dieser sei häufig nämlich nur durch Dolmetsche­r sichergest­ellt, die Arzt und Patient die Verständig­ung ermögliche­n. „Doch für diese Kosten fühlen sich weder die Kassen noch sonst jemand zuständig.“

 ??  ?? Die Grenze bei Spielberg ist derzeit auch Zaun-Baustelle. Viele Flüchtling­e sind bereits traumatisi­ert, wenn sie hier ankommen.
Die Grenze bei Spielberg ist derzeit auch Zaun-Baustelle. Viele Flüchtling­e sind bereits traumatisi­ert, wenn sie hier ankommen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria