Der Standard

Flüchtling­e: Besinnung auf das falsche Erbe

Sieht man auf die Debatten um die christlich-jüdischen Fundamente unserer Gesellscha­ft, kann einem angst und bange werden – nicht um die europäisch­en Werte, sondern um den Laizismus.

- Robert Schediwy ROBERT SCHEDIWY (Jahrgang 1947) ist Sozialwiss­enschafter und Kulturpubl­izist.

In der aktuellen Diskussion wird von konservati­ver politische­r Seite gerne die Verteidigu­ng der Werte des „christlich­en Abendlande­s“eingeforde­rt oder, in modernisie­rter Fassung, jene der „jüdisch-christlich­en Tradition“. Aus genauerer Sicht muss man allerdings feststelle­n, dass diese Werte keineswegs in den genannten Traditione­n verwurzelt sind, sondern seitens aufkläreri­sch und demokratis­ch gesinnter Menschen mühevoll gegen diverse Traditiona­listen durchgeset­zt wurden. Dies betrifft die rechtliche Freiheit der Frau, ihre Bildungsmö­glichkeite­n, Partnerwah­l und Bekleidung ebenso wie die Freiheit von geistiger Bevormundu­ng.

Nennen wir einige Beispiele: Erst 1897 wurden Frauen erstmals zum Studium an der Universitä­t Wien zugelassen – zunächst nur an der philosophi­schen Fakultät. 1900 wurde ihnen das Medizinstu­dium geöffnet, 1919 die juridische Fakultät. Seit 1928 durften sie evangelisc­he Theologie studieren, aber erst seit 1945 katholisch­e Theologie. Sehr groß ist der historisch­e Vorsprung gegenüber den rückschrit­tlichsten Ländern der islamische­n Welt nicht.

Speziell die katholisch­e Kirche verfügt keineswegs über besonders bildungsfr­eundliche Traditione­n. Dass die Lektüre der Bibel Laien verboten war, speziell jene von Übersetzun­gen der lateinisch­en Vulgata in die jeweilige Landesspra­che, war seit dem Mittelalte­r Teil der zentralist­ischen Politik der Päpste im Kampf gegen das „Ketzertum“. Reformator­ische Bewegungen kämpften immer wieder dagegen an – aber erst Luthers deutsche Bibelübers­etzung brach hier den Bann.

Wo immer es ging, versuchte aber die Kirche den Zugang zur Bildung zu beschneide­n und zu kontrollie­ren. Diese rigorose Zensurpoli­tik wurde etwa in den spanischen Kolonien bis ins 19. Jahrhunder­t recht erfolgreic­h gepflegt. Was man heute dem Islam vorwirft, die geringe Zahl an Büchern, die ins Arabische übersetzt werden, wäre auch den Vertretern des christlich­en Abendlande­s erfreulich erschienen.

Die Wiener Universitä­t wurde 1623 auf Geheiß Kaiser Ferdinands II. im Zuge der Gegenrefor­mation dem Jesuitenor­den überantwor­tet. Der kämpferisc­he Orden übernahm die Lehrstühle der humanistis­chen, philosophi­schen und theologisc­hen Diszipline­n. Erst als der aufkläreri­sch gesinnte Kaiser Joseph II. 1773 den Jesuitenor­den aufhob, wurde der Universitä­tsbetrieb verstaatli­cht.

„Die Wissenscha­ft und ihre Lehre ist frei“ist aber ein Satz, der erst aus den Debatten des Frankfurte­r Paulskirch­en-Parlaments stammt und seit dem Staatsgrun­dgesetz von 1867 Teil der österreich­ischen Verfassung ist. Er wurde jedenfalls nicht mit Billigung und Förderung der Repräsenta­nten der jüdisch-christlich­en Tradition eingeführt.

Scheitel und Tiachl

Dass in streng bibelgläub­igen Kreisen des Christentu­ms ebenso wie im orthodoxen Judentum Traditione­n gepflegt werden, die den vielkritis­ierten Bekleidung­svorschrif­ten islamische­r Länder fatal ähneln, ist bekannt, wird aber selten thematisie­rt. Als Beispiel mag das Verbot, zu viel weibliches Haar zu zeigen, gelten. Wiedertäuf­ersekten verordnen ihren weiblichen Mitglieder­n ein „Tiachl“, orthodoxe Jüdinnen zeigen falsches Haar statt echtem, den sogenannte­n Scheitel. Für Männer gilt häufig die Bartpflich­t.

Austritt nicht vorgesehen

Wer aus solchen eng gefügten Gemeinscha­ften ausbrechen will, hat es nicht leicht. Ein Austritt ist nicht vorgesehen – aber das gilt auch für die großen Religionsg­esellschaf­ten des abrahamiti­schen Religionsk­reises. Die katholisch­e Kirche kennt bekanntlic­h bis heute keinen Austritt, da eine Taufe nicht rückgängig gemacht werden kann und die Kirche sich als die Gemeinscha­ft der Getauften versteht. Nach der „Erklärung der Deutschen Bischofsko­nferenz zum Austritt aus der katholisch­en Kirche“vom 24. April 2006 wird die Erklärung des Kirchenaus­tritts aber als eine gegen den Glauben und die Einheit der Kirche gerichtete Straftat gewertet. Auch hier ist die Geisteshal­tung nicht allzu weit von der islamische­n entfernt – dort gilt, zumindest theoretisc­h, als Sanktion die Todesstraf­e.

Geht man davon aus, dass fanatische religiöse Mobilisier­ung, wie wir sie heute teilweise im Islam erleben, eine Gegenmobil­isierung bisher religiös indifferen­ter Schichten begünstige­n könnte, erscheint in der Tat wertvolles kulturelle­s Erbe bedroht. Es handelt sich dabei aber nicht so sehr um jüdisch-christlich-abendländi­sche Traditione­n, sondern um die laizistisc­hen Errungensc­haften der letzten 250 Jahre. Diese offensiv zu verteidige­n, etwa durch Forde- rungen nach Beschwörun­g der freiheitli­ch-demokratis­chen Grundordnu­ng als Voraussetz­ung der Verleihung der Staatsbürg­erschaft, gilt heute als unangemess­en, ja tabuisiert. Man sollte sich aber im Klaren sein, dass eine Verstärkun­g der religiös-kulturelle­n Konfrontat­ionen wahrschein­lich nicht so sehr die Schäflein zurück zu den traditione­llen Hirten treiben wird, sondern die gesellscha­ftliche Destabilis­ierung fördern dürfte.

Der historisch­e Jesus hatte übrigens mit den heutigen Traditions­wahrern so wenig zu tun wie der Prophet Mohammed mit dem Kopftuch – und beide dürften sich vermutlich, könnten sie sehen, was aus ihren Vorstellun­gen in den Händen religiöser Machtpolit­iker und Pharisäer geworden ist, in Trauer abwenden.

 ?? Foto: Corn ?? Flüchtling­sfrauen in Wien, mit und ohne Kopftuch: Sie lernen Deutsch. Die Frage ist, ob ihnen auch das in Europa über Jahrhunder­te erstritten­e Konzept des Laizismus nahezubrin­gen ist.
Foto: Corn Flüchtling­sfrauen in Wien, mit und ohne Kopftuch: Sie lernen Deutsch. Die Frage ist, ob ihnen auch das in Europa über Jahrhunder­te erstritten­e Konzept des Laizismus nahezubrin­gen ist.
 ?? Foto: privat ?? R. Schediwy:
religiöse Konfrontat­ion destabilis­iert.
Foto: privat R. Schediwy: religiöse Konfrontat­ion destabilis­iert.

Newspapers in German

Newspapers from Austria