LESERSTIMME
Paradoxien allenthalben
Betrifft: Flüchtlinge und Antisemitismus Es wird, zuletzt vom Präsidenten der IKG, vor einem „Antisemitismus“unter den Flüchtlingen gewarnt. Zu Recht? Wahrscheinlich haben die Schutzsuchenden zunächst andere Sorgen; aber es stimmt: In ihrem ideologischen Gepäck gibt es sicher bestimmte Vorstellungen von Juden. Diese ergeben sich selbstverständlich aus der politischen Sozialisation in Ländern wie Syrien und Irak. „Nur“handelt es sich hier nicht einfach um Vorurteile gegenüber jüdischen Nachbarn oder europäisch-christlichen Wahn, sondern in erster Linie um Erfahrungen des israelisch-arabischen Konflikts. In diesem Kontext präsentiert sich Israel als jüdisch, als Vertretung des jüdischen Volkes. Das Jüdische tritt in diesem Fall als reale Macht auf, und die Vermischung von „jüdisch“und „israelisch“wird unvermeidlich.
Als reale Macht mit einer Geschichte von Entwurzelung, Vertreibung und Okkupation löst Is- rael zunächst Reaktionen von Widerstand und antikolonialer Abneigung aus. Wegen der überlangen Dauer des Konflikts (der erste zionistische Kongress fand 1897 statt) haben sich Rationalisierungen der Feindschaft über den ursprünglichen Konflikt hinaus angesammelt. Dazu gehören antijüdische Elemente aus der islamischen Tradition, die historisch eine geringe Bedeutung hatten, im Kontext des Konflikts jedoch maßlos überhöht und ideologisiert wurden. In dieser Ausformung können sie sich mit den schlimmsten Formen des europäisch-christlichen Antisemitismus vermischen und in dieser Form auch in die Rationalisierung des islamistischen Terrorismus eingehen. So kommt es zu einer historisch grotesken Gleichsetzung von „Juden“und „Kreuzfahrern“.
Um die Paradoxie noch zu vervielfachen, finden wir im gegenwärtigen islamophoben Diskurs Dämonisierungen von Muslimen, die einem Echo antisemitischer Verhetzung gleichkommen. Um den Kreis der Paradoxie zu schließen, finden wir neuerdings einen geheuchelten Philosemitismus im islamophoben Diskurs. Die Feindschaft gegen den Islam soll nun Juden und Israel mit den Rettern des christlichen Abendlandes verbinden.
Der „Antisemitismus“von nahöstlichen Zuwanderern, der sich mit dem Antisemitismus islamischer Minderheiten in Europa verbinden könnte, stellt also nur ein Element eines unseligen Cocktails dar. Da es sich nicht um den „reinen“, eigentlichen europäischchristlichen Antisemitismus handelt, der einen rigiden Wahn darstellt, könnten realgeschichtliche Faktoren zu einer Entflechtung beitragen: die Entdeckung gemeinsamer Interessen von jüdischen und muslimischen Minderheiten in Europa – und Initiativen zur Überwindung des israelischpalästinensischen Konflikts. Es sei daran erinnert, dass sich antijüdische Übergriffe von Muslimen in Zeiten akuter nahöstlicher Kriege (z. B. Gaza) häuften, in Perioden von Friedenshoffnungen (Oslo) jedoch abflauten. John Bunzl 1010 Wien