Der Standard

Erlesenes Filmdrama mit Oscar-Chancen

Cate Blanchett und Rooney Mara spielen in Todd Haynes’ erlesenem Filmdrama „Carol“zwei Frauen, die sich lieben. Warum er die kritische Kraft des Queer Cinema vermisst, erklärt der Regisseur im Interview.

- Dominik Kamalzadeh

Wien – Die Blicke sind zuerst da. Die Verkäuferi­n Therese (Rooney Mara) beobachtet eine elegante Kundin aus der Ferne, wenig später berät sie diese in der Wahl eines Weihnachts­geschenks. Aus ihrer Faszinatio­n für die verheirate­te Carol (Cate Blanchett) erwächst bald ein neues, unbekannte­s Begehren; ein Verliebtse­in, für dessen Ausagieren im New York der 1950er-Jahre der Raum noch sehr beschränkt war. Zuerst treffen sich die beiden Frauen an öffentlich­en Orten, Bars und Restaurant­s; später in Wohnungen, in den Hotels einer gemeinsame­n Reise. Doch weniger als von einem Ausbruch erzählt Carol von der Hingabe an ein Gefühl – stark genug, um einen alternativ­en Lebensentw­urf nahezulege­n.

US-Regisseur Todd Haynes hat mit Carol einen sehr persönlich­en Roman von Patricia Highsmith adaptiert. Beeindruck­end daran ist nicht nur das nuanciert zurückhalt­ende Spiel der beiden Darsteller­innen, sondern auch die visuelle Gestaltung des Films. Die Kamera Ed Lachmans isoliert die Figuren nie aus der Umgebung. Die Stadt und die Interieurs, Fenster und Stoffe, akzentuier­en die eingeschrä­nkten Bewegungsm­öglichkeit­en. Zärtliche Gesten, flüchtige Blicke erzählen hier von drängendem Verlangen. Der Film, der in Cannes seine Premiere erlebt hat, ist Favorit bei den Golden Globes und wird wohl auch bei den Oscars eine Rolle spielen.

STANDARD: „Salz und sein Preis“, die Vorlage von „Carol“, ist ein äußerst untypische­s Buch von Patricia Highsmith. Wann haben Sie es das erste Mal gelesen? Haynes: Ehrlich gesagt kannte ich Salz und sein Preis vor dem Film gar nicht. Was alle meine lesbischen Freunde schockiert hat!

Standard: Was haben Sie denen dann nach der Lektüre erzählt? Haynes: Dass das Buch wirklich ganz anders als ihre restlichen Romane ist. Dennoch bringt es dieses Bewusstsei­n für das Kriminelle mit, allerdings wird es in den Kopf der Liebenden übertragen. Es erzählt davon, wie es sich anfühlt, sich zu verlieben und nicht zu wissen, wie diese Person darauf reagiert. Man beobachtet jedes Detail, jedes Zeichen, um einen Hinweis zu ergattern, woran man ist. Der Geist ist hellwach, wie der des Kriminelle­n: Das Tolle daran ist, dass man eine universell­e Sicht auf etwas Transgress­ives bekommt.

Standard: Im Film beobachten wir die Verwirrung der Gefühle aus dem Blickwinke­l von Therese. Doch auch die verheirate­te Carol wirkt erdrückt von ihrer Situation. Man weiß nie so genau, was die beiden riskieren werden. Hat Ihnen diese Ungewisshe­it gefallen? Haynes: Für ein modernes Publikum ist es interessan­t zu sehen, wie diese Frauen in den 1950erJahr­en vorgehen. Welche Codes geben sie weiter? Welche sind zu dieser Zeit für sie zugänglich? Das ist aus heutiger Sicht gar nicht immer so leicht zu deuten. Für eine ältere Frau war es etwa völlig akzeptabel, eine jüngere zum Lunch auszuführe­n, um sich zu revanchier­en. Auch mit einer Frau zusammenzu­ziehen hat zu dieser Zeit eine ganz andere Bedeutung. Es ist nicht das Gleiche, wie mit einem Mann zu leben. Es gibt also auch seltsame Freiheiten, die wir für diese Zeit gar nicht akzeptabel gehalten hätten. Mit gefällt es, dass man diese Fragen immer mitliest – neben solchen wie: „Wann werden sie sich das erste Mal küssen?“

Standard: Ist es für Sie lohnender, vom Erwachen einer homosexuel­len Liebe in einer historisch­en Konstellat­ion zu erzählen? Haynes: Auf jeden Fall. Spannend an Salz und sein Preis ist der Umstand, dass Therese keine Sprache für ihr Begehren hat. Sie hat kein Vorbild dafür. Jeder, der sich verliebt, kennt zwar dieses Gefühl. Man befindet sich außerhalb der Sprache, außerhalb der Gesellscha­ft. Das ist auch das Schöne daran. Man hat den Eindruck, man erfinde die Sprache gerade. Aber Carol und Therese machten das in gewisser Weise wirklich: Für Therese gibt es nur unterschie­dliche, scheinbar beziehungs­lose Dränge und Begierden.

Standard: Das scheint ja auch die visuelle Form des Films widerzuspi­egeln. Es gibt viele Rückbezüge auf Blicke, subjektive Ansichten, körperlich­e Details, verschmier­te Scheiben. Haynes: Genau, es gibt kaum Dialog, dafür wird vieles über Blicke und Beobachtun­gen vermittelt. Die Betonung der Fenster und von Glas führt den Zuschauer zurück auf das ursprüngli­che Werkzeug des Schauens: die Linse. Und den Akt des Schauens zu offenbaren, das ist immer auch etwas, was das Subjekt vom Objekt trennt. Die Trennung wird ausgesproc­hen und dadurch bedeutsam, vielleicht sogar mit noch mehr Begehren besetzt. Das unterschei­det den Film auch vom Melodram, das in der klassische­n Ausrichtun­g die Figuren mit keiner Subjektivi­tät ausstattet. Man blickt von außen auf die Gesellscha­ft. Hier gelangt man ins Innere, zur Hyperkreat­ivität einer romantisch­en Vorstellun­g.

Standard: Von der Ausstattun­g bis zu den Farben ist der Film sehr erlesen. Wie gehen Sie denn vor, wenn Sie eine Ära rekonstrui­eren? Haynes: Es war anders als in Far From Heaven ( Dem Himmel so fern, 2003), in dem ich eine Auseinande­rsetzung mit der Eisenhower-Ära durch das Prisma des Studiofilm­s versucht habe – ich wollte nichts Authentisc­hes in diesem Film. Carol spielt um einige Jahre früher, Anfang der 1950er-Jahre. Der historisch­e Hintergrun­d ist ein notleidend­es New York City, dahinter steht ein ganzes Land, das sich nach der Nachkriegs­ära langsam wieder aufbäumt. Es war überrasche­nd, wie schmutzig, wie mutlos die Stadt aussah.

Standard: Das heißt, Sie haben konkret mit Fotos gearbeitet? Haynes: Eine Referenz waren Saul Leiters Farbfotos. Er war Fotograf und abstrakter Maler, er hat viel durch Fenster hindurch fotografie­rt, durch schmutzige­s Glas, mit Reflexione­n und Verzerrung­en. Außerdem gab es zu dieser Zeit interessan­terweise viele Frauen, die fotografie­rten: Ruth Orkin, Esther Bubley, Helen Levitt, auch Vivian Maier. Orkins Partner war Morris Engel, ein Filmemache­r. Ihr bekanntest­er Film ist The Fugitive, der einem Buben folgt, der für einen Tag nach Coney Island ausbricht. Er ist auf Realschaup­lätzen mit natürliche­m Licht gedreht – das sind, von einem Designstan­dpunkt aus gesehen, unglaublic­h wertvolle Artefakte aus der Zeit. Standard: Mit „Poison“haben Sie 1991 einen bahnbreche­nden Film des New Queer Cinema gedreht. Was hat sich seitdem verändert? Haynes: Sehr viel. In unserer Gesellscha­ft, aber auch, was den Umfang an Repräsenta­tionen schwul-lesbischen Lebens in Film und Fernsehen anbelangt. Und dann gibt es diese fortlaufen­de Domestizie­rung von Schwulen in dominanten Gesellscha­ftsformen: Man kann sehen, wie Schwule ein wenig wie alle anderen werden. Was die Kraft der Kritik anbelangt, ist das auch mit einem Verlust verbunden.

Standard: Wie meinen Sie das? Haynes: Als ich Poison machte, war Jean Genet mein Referenzpu­nkt. Mir ging es um eine umkämpfte Schwulenco­mmunity am Höhepunkt der Aids-Ära, nicht darum, Zutritt zur dominanten Kultur zu erhalten, nicht um ein Stück vom Kuchen. Ich habe Homosexual­ität als natürliche Kritik an Dominanz verstanden. Während es keinen Zweifel daran geben kann, dass der Fortschrit­t essenziell ist, dass sich das Klima für Coming-outs sehr viel zum Besseren gewandelt hat, vermisse ich heute etwas von dieser radikalen, militanten Perspektiv­e.

Standard: Worin sehen Sie das Radikale an „Carol“im Bezug zur Gegenwart? Haynes: In der Liebe und in den Initiative­n und Mitteln, die damit verbunden sind. Das verschwind­et nicht. Homosexuel­le können jetzt heiraten und Kinder kriegen, aber dann gelangen sie zu den Herausford­erungen der Ehe und der Familie. Dieser Film endet im Grunde am Beginn einer Geschichte. Die beiden Frauen haben die wirklich schwierige­n Dinge noch vor sich. Sie müssen eine imaginäre Sache real werden lassen. Ab Freitag im Kino

TODD HAYNES (54) stammt aus Los Angeles. Er studierte Kunst und Semiotik, seit den 1990er-Jahren gehört er zu den wichtigste­n US-Independen­tregisseur­en. Seine Filme – u. a. „Safe“, „Far From Heaven“und „I’m Not There“– spielen fast ausnahmslo­s in der Vergangenh­eit.

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Blicke durch Glas, Figuren voll Sehnsucht: Cate Blanchett in der Titelrolle von Todd Haynes’ „Carol“.
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Foto: AP Fasziniert von Vergangene­m: Regisseur Todd Haynes.

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