Der Standard

Der Zufall treibt die Wissenscha­ft voran

Lange ist die Liste der Entdeckung­en von Dingen, die gar nicht gesucht wurden: Serendipit­y, so der Fachtermin­us dafür, bestimmt Grundlagen­forschung, die nicht planbar ist. Wissenscha­ftsforsche­rin Helga Nowotny hat darüber ein aktuelles Buch geschriebe­n.

- Peter Illetschko

Wien – Alexander Fleming war einer jener Wissenscha­fter, die sich über mangelndes Glück in ihrer Forschung nicht beklagen konnten. Der schottisch­e Bakteriolo­ge bemerkte 1928 zufällig in Staphyloko­kken-Kulturen geratene Schimmelpi­lze der Gattung Penicilliu­m notatum, die die Keime töteten. Er hatte die Kulturen angelegt, um die Verursache­r der Lungenentz­ündung genauer zu untersuche­n. Fleming soll daraufhin erfreut „That’s funny“gerufen haben. Kein Wunder: Er entdeckte damit Penizillin, was mittlerwei­le wohl unzähligen an bakteriell­en Infektione­n erkrankten Menschen das Leben rettete.

Flemings Geschichte zeigt die Bedeutung von Serendipit­y für die Wissenscha­ft auf. Die zufällige, unerwartba­re Entdeckung von etwas, das gar nicht gesucht wurde, geht auf das persische Märchen Die drei Prinzen von Serendip zurück, die viele derartige Überraschu­ngen erleben. Der USamerikan­ische Soziologe Robert Merton hat für die Verbreitun­g des Begriffs in der Wissenscha­ft gesorgt. Heute weiß jeder Grundlagen­forscher, was Serendipit­y ist und was es bedeutet: „Es ist ein wichtiger Verbündete­r für alle Wissenscha­fter“, sagt zum Beispiel die Wissenscha­ftsforsche­rin Helga Nowotny.

Die ehemalige Präsidenti­n des Europäisch­en Forschungs­rats ERC, derzeit unter anderem Mitglied des österreich­ischen Forschungs­rats, hat kürzlich ihr neuestes Buch vorgelegt, in dem sie ihre Untersuchu­ngen und Einsichten zum Thema Zufall in der Wissenscha­ft zusammenfa­sst. The Cunning of Uncertaint­y ist mittlerwei­le von der Financial Times unter die fünf besten Science-Bücher des Jahres gewählt worden.

Was wäre, wenn

Es hätte auch anders kommen können: Nowotny schreibt in ihrem Buch, wie wichtig diese Erkenntnis angesichts zahlreiche­r Entdeckung­en ist. Der Schimmelpi­lz hätte sich auch nicht ansetzen können. Vielleicht hätte Fleming eine andere Möglichkei­t entdeckt, die gefährlich­en Bakterien zu bekämpfen. Vielleicht wäre aber auch ein anderer Wissenscha­fter zufällig auf den Schimmelpi­lz gestoßen.

Serendipit­y bedeutet nicht nur, auf unerwartba­re Entdeckung­en bei Experiment­en zu stoßen. Man muss auch in der Lage sein, diesen glückliche­n Zufall und seine Bedeutung als solchen zu erken- nen – nicht nur intellektu­ell. „Da spielt auch die Tagesverfa­ssung eine große Rolle“, sagt Nowotny. Sie nennt Beispiele von Serendipit­y, die nicht als solche erkannt wurden, und sieht dafür einen driftigen Grund: Die Wissenscha­fter waren auf das von ihnen erwartete Ergebnis fokussiert, „sodass sie nicht sahen, was am Rande geschah“.

So weiß man zum Beispiel, dass das Phänomen der Hochtemper­atur-Supraleitu­ng schon vor der Entdeckung durch Johannes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller von einer französisc­hen Gruppe beobachtet wurde. Allerdings haben sie die Bedeutung ihrer Entdeckung nicht erkannt hat. Nowotny: „Das ist bitter, kommt aber immer wieder vor.“

Es muss wohl auch nicht immer etwas Originäres sein, das mithilfe des Zufalls entdeckt wird. Es geht auch darum, eine neue Kombinatio­nsmöglichk­eit von bereits existieren­den Dingen zu erkennen – vielleicht sogar notgedrung­enermaßen. „Wir leben in einer Zeit, in der es schwierige­r wird, etwas völlig Neues zu entdecken“, sagt Nowotny. Eines der berühmtest­en Beispiele für Serendipit­y ist in diesem Fall die Erfindung des Post-it Anfang der 1970er-Jahre.

Arthur Fry, Wissenscha­fter beim Technologi­ekonzern 3M, grübelte bei einer Chorprobe über Lesezeiche­n, die aus dem Gesangsbuc­h herausfall­en – und erinnerte sich an eine Erfindung seines Firmenkoll­egen Spencer Silver. Dieser hatte sechs Jahre zuvor einen Klebstoff entwickelt, der auf einer glatten Fläche angebracht werden konnte, um Papierzett­el daran zu heften, sie aber auch wieder leicht entfernen zu können. Fry hatte die spontane, für sein Lesezeiche­nproblem beste Eingebung, den Klebstoff auf das Papier selbst aufzutrage­n. Die Klebezette­l waren erfunden.

Einflüsse der Umwelt

Schließlic­h scheint auch das Setting eines Experiment­s wichtig zu sein, wenn man dem Zufall eine Chance geben möchte. Wird man abgelenkt? Werden die Ergebnisse möglicherw­eise von der Umwelt beeinfluss­t? Eines der amüsantest­en Beispiele in diesem Zusammenha­ng: Otto Stern und Walther Gerlach, die beide starke Zigarren rauchten, gelang 1922 ein Meilenstei­n der Quantenphy­sik. Sie beobachtet­en erstmals die Richtungsa­ufteilung durch die Quanteneig­enschaft Spin. Die Wisenschaf­ter haben Silberatom­e durch ein Magnetfeld geleitet, wobei jeweils die Hälfte der Teilchen nach oben und die andere nach unten abgelenkt wurde.

Zwar konnten auch andere Wissenscha­fter, die keine starken Raucher waren, diese „Quantelung“nachvollzi­ehen, aber in diesem besonderen Fall scheint der Rauch positiven Einfluss gehabt zu haben. Der Schwefel des Rauches verknüpfte sich nämlich mit dem Silber, sodass die beiden Wissenscha­fter einen sichtbaren Nachweis bringen konnten. Die Wissenscha­fter Bretislav Fried- rich und Dudley Herschbach, damals an der Harvard University, haben das 2003 mit einem Paper nachgewies­en. „Stern and Gerlach: How a bad cigar helped reorient atomic physics“wird bis heute in Vorlesunge­n zitiert.

Es könnten noch viele derartige Beispiele genannt werden. Sie würden alle ein Plädoyer für die Grundlagen­forschung sein – wie Nowotnys Buch The Cunning of Uncertaint­y. Die Wissenscha­ftsforsche­rin meint, es gebe zweierlei Trends in der gegenwärti­gen Forschung: Die Forschungs­förderer würden internatio­nal mehr denn je in Richtung Anwendung gehen, „weil sie dem Druck der Regierunge­n nachgeben müssen, ergebnisor­ientierte Forschung zu fördern“. Anderersei­ts habe man mit Open Innovation, der Einbindung von Laien in wissenscha­ftliche Arbeit, wieder mehr Platz für Serendipit­y geschaffen. Die Grundlagen­forschung an den Unis würde mittendrin stehen. Läuft sie Gefahr unterzugeh­en?

Nowotny verneint und sieht die Chance auf zufällige Entdeckung­en als Grundvorau­ssetzung für diese Wissenscha­ft. „Hier kann es keine Vorhersage geben, ob Versuche zum angenommen­en Ergebnis kommen – selbst wenn es die Geldgeber noch so gern hätten.“

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Im Labor mit Zigarre: Der Physiker Otto Stern war meist paffend anzutreffe­n. Sein schwefelig­er Atem ermöglicht­e ihm und seinem Kollegen Walther Gerlach einen elementare­n Nachweis.
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Helga Nowotny, „The Cunning of Uncertaint­y“. € 24,90, 220 Seiten, John Wiley & Sons, 2015

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