Der Standard

Mensch und Maschine in Harmonie

Call „Users in Focus“sucht Technologi­en, die die Bedürfniss­e der Nutzer treffen

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Wien – Mülltonnen mit Sensoren auszustatt­en, um die Füllmenge automatisc­h zu registrier­en – das war die Idee einer deutschen Kommune, die das tatsächlic­he Müllaufkom­men eines Haushalts als Maßstab für die Entsorgung­sgebühren hernehmen wollte. Das Ergebnis der neuen Technologi­e, die eigentlich für mehr Gerechtigk­eit sorgen sollte, war überrasche­nd: Der Müll landete verdächtig oft in der Nachbarton­ne, Abfalltonn­en wurden daraufhin mit Schlössern versehen. Bei Gemeinscha­ftstonnen gab es Streit. Abfall wurde von den Bürgern in großen Mengen in der freien Natur deponiert. Ein Misserfolg. Am Ende kamen die Sensoren wieder weg.

Reinhard Keil, Professor der Fachgruppe Kontextuel­le Informatik und Dekan der Fakultät für Elektrotec­hnik, Informatik und Mathematik der Universitä­t Paderborn, zeigt mit diesem Beispiel, was passieren kann, wenn technische Neuerungen nicht ausreichen­d an ihre Nutzer angepasst sind. Das Problem, dass gerade bei der Vernetzung der Städte zu Smart Citys die Umsetzung des technisch Möglichen im Vordergrun­d steht, die Bedürfniss­e der Bürger aber zurückblei­ben, wird auch im neuen Call „Users in Focus“der Wirtschaft­sagentur Wien thematisie­rt.

Im Rahmen der Ausschreib­ung werden Projekte gefördert, die „die Bedürfniss­e, Anforderun­gen und Lebenswelt­en der User syste- matisch berücksich­tigen“. Keil ist Vorsitzend­er der Jury des Calls.

Die Forschung an optimalen Schnittste­llen zwischen Mensch und Computer hat sich über die Jahre gewandelt. Waren es in den 1980er- und 1990er-Jahren noch Fragen der Ergonomie von Benutzerob­erflächen und der Gebrauchst­auglichkei­t von technische­n Gegenständ­en, stehen heute Begriffe wie Engagement und Flow im Fokus. „Es geht um intuitive Benutzerob­erflächen, die ihre Nutzer reinziehen. Die Anwendung muss sich auf natürliche Art ergeben und leicht von der Hand gehen, ohne dass ich darüber nachdenke“, so der Forscher. „Wenn ich mit dem Smartphone bezahlen möchte, muss das schnell und flüssig gehen, und ich muss verstehen, welche Transaktio­nen gelaufen sind. Trotzdem muss die Bezahlmeth­ode absolut sicher sein. Das ergibt eine große Herausford­erung an das Schnittste­llendesign.“

Smartphone­s als Vorboten intelligen­ter technische­r Systeme mit Sensorik im Kontext hoher Vernetzung dienen nicht nur als elektronis­che Geldbörse, sondern auch als Navigation­s- und Echtzeit-Verkehrsle­itsysteme, als Umgebungss­ensor und zur Aufnahme medizinisc­her Daten. Es bedarf also vieler Schnittste­llen, die dem Einsatz im Alltag gewachsen sind – auch im Alltag von Menschen, die älter sind oder spezielle Bedürfniss­e haben. Vom GPS-Rollator bis zur intelligen­ten Tabletten- schachtel muss den Technologi­en beigebrach­t werden, nahtlos mit ihren Benutzern zu interagier­en.

Bei vielen Anwendunge­n stellt sich die Frage des Umgangs mit personenbe­zogenen Daten. Keil bringt ein Beispiel aus der Vernetzung der Städte: „Wird an einer Ampel jedes Fahrzeug erfasst, hat das nochwenig mit Smart City zu tun. Wenn allerdings erfasst wird, wo das Fahrzeug als Nächstes auftaucht, bekommt man Routeninfo­rmationen. Damit kann man ein Verkehrsle­itsystem ganz anders aufbauen“, so der Wissenscha­fter. „Sobald Sie das aber machen, erfassen Sie Bewegungsp­rofile von Bürgern.“

Was die konkreten Eingabefor­men im Umgang mit der intelligen­ten Technik betrifft, kommen zu Tastatur, Maus und Touch-Display in erster Linie Gesten- und Sprachsteu­erung hinzu. Keil gibt zu bedenken, dass die Gestensteu­erung explizit gelernt werden müsste. „Wir haben uns daran gewöhnt, dass man mit dem Auseinande­rspreizen von Daumen und Zeigefinge­rn am Touch-Display den Bildschirm­inhalt vergrößert. Dass aber etwa bei Apple-Handys Schütteln die Funktion hat, eine Eingabe rückgängig zu machen, ist nicht intuitiv. Wer die Funktion nicht kennt, kommt niemals auf die Idee.“

Spracheing­abe habe dagegen den Vorteil, dass man als User wenig lernen müsse und schnell viel bewältigen könne. Auch Augensteue­rung – also durch die Bewegungen der Pupillen – sei ein Thema. Letztendli­ch werde es um die Koppelung und Integratio­n verschiede­ner Dienste gehen, glaubt Keil. Je nach Anwendung werde es einen anderen Mix an Eingabetec­hniken geben. Und viele verschiede­ne Displays und Interfaces, um damit zurechtzuk­ommen. „Eine Anwendung, die ich am Computer starte, kann sich in einzelnen Elementen über mehrere Geräte verteilen. Einzelne Menüpunkte werden dann etwa aufs Smartphone ausgelager­t.“

Ob die Gestaltung einer Anwendung tatsächlic­h den begehrten Flow bewirkt, weiß man meistens erst nach der Umsetzung, so Keil. Natürlich besteht auch die Möglichkei­t, dass Systeme zweckentfr­emdet werden. In den 1970erJahr­en kamen Fernsehtec­hniker etwa auf die Idee, dass man die sogenannte Austastlüc­ke – Bild- schirmzeil­en, die übertragen, aber nicht angezeigt wurden – für die Datenübert­ragung nutzen könnte – die Geburtsstu­nde des Teletexts. Und auch die Erfindung der SMS war so nicht intendiert. Der Kurznachri­chtendiens­t war eigentlich für kurze Systemnach­richten des Providers vorgesehen.

Aber auch Kriminalit­ät bedient sich der Zweckentfr­emdung. „Über den Sensor, der bei heutigen Fahrzeugen den Reifendruc­k ans Fahrzeug sendet, könnte man das Auto theoretisc­h auch fernsteuer­n, wenn es gelänge, beim Fahren nah genug am Sensor zu agieren und das Protokoll zu überlisten.“(pum) Einreichsc­hluss für den Call ist der 14. März 2016. p www.wirtschaft­sagentur.at

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Bedürfniss­en der Bürger vorbei entworfen werden.
Intelligen­te Techniken wie Verkehrsle­itsysteme dürfen nicht an den Bedürfniss­en der Bürger vorbei entworfen werden.
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Foto: Keil Computerwi­ssenschaft­er Reinhard Keil, Uni Paderborn.

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