Der Standard

Das Handwerk in den Mund legen

Die FH Gesundheit­sberufe und die Johannes-Kepler-Uni entwickeln einen Mundstab für Behinderte

- Doris Griesser

Linz – Ein Mann, der seine Hände nicht benützen kann und trotzdem mit dem iPad surft? Mit einem Mundstab klickt er auf die Apps. Aber so einfach, wie es vielleicht klingt, ist der Gebrauch dieser Orthese nicht. „Mundstäbe sind multifunkt­ionale Werkzeuge und müssen individuel­l auf den jeweiligen Benutzer abgestimmt sein“, erläutert die Ergotherap­eutin Gerda Estl. Das Stück wird mit Mund, Lippen, Zähnen und Zunge festgehalt­en und muss gut sitzen, damit die optimale Führung und Druckausüb­ung zur Bedienung während der verschiede­nen Aktivitäte­n gewährleis­tet ist.

Bei der Anpassung dieser Orthese müssen viele Faktoren wie etwa die Zahnstellu­ng, der muskuläre Mundschlus­s, die Beißkraft oder die Zungenbewe­glichkeit des Nutzers, beachtet werden. Auch die Länge und der Winkel des Stabes müssen individuel­l adaptiert werden, da die Sitzpositi­on und die Beweglichk­eit von Nacken und Kopf bei jedem Nutzer unterschie­dlich sind und großen Einfluss auf die Reichweite mit dem Mundstab haben. Außerdem sollten die Materialei­genschafte­n des Mundstücks – ob weich, fest, flexibel oder elastisch – den Nutzerbedü­rfnissen angepasst sein.

Zwar werden gegenwärti­g unterschie­dliche Mundstücke angeboten, diese müssen aber erst in einem aufwendige­n Prozess für den jeweiligen Nutzer adaptiert oder in Handarbeit etwa von Ergotherap­euten hergestell­t werden. Aus diesem Grund wurde vom Institute of Polymer Product Engineerin­g der Johannes-KeplerUniv­ersität Linz das Projekt „RaProErgo“initiiert, in dem die Grundlagen für eine effiziente­re Produktion maßgeschne­iderter Orthesen durch sogenannte generative Fertigungs­verfahren gelegt werden sollen. Gemeint ist damit zum Beispiel der 3-D-Druck.

Die Herstellun­g erfolgt direkt mittels chemischer oder physikalis­cher Prozesse aus flüssigem, pulver- oder drahtförmi­gem Material. Generative Verfahren werden unter anderem in der Medizinund Dentaltech­nik für die Einzelfert­igung von Teilen mit großer geometrisc­her Komplexitä­t und Anpassbark­eit eingesetzt.

Um maßgeschne­iderte Mundstäbe im 3-D-Druck herstellen zu können, benötigt man natürlich virtuelle Modelle, die alle nötigen Informatio­nen enthalten. Sie werden im Rahmen des „RaProErgo“Projekts von Ergotherap­euten, Technikern und IT-Experten erarbeitet.

Physische Grenzen kennen

Basis der Modelle ist das von Ergotherap­euten erfasste Wissen um die physischen Fähigkeite­n und Grenzen sowie die individuel­len Bedürfniss­e des jeweiligen Anwenders. „Um eine optimale Orthese herstellen zu können, muss man auch wissen, was die Person mit dem Mundstab konkret tun möchte, welche Handgriffe das Hilfsmitte­l ersetzen bzw. erleichter­n soll, wie weit der Nutzer den Mundstab bewegen kann oder wie viel Platz die Zunge braucht“, erklärt Gerda Estl von der FH Gesundheit­sberufe in Oberösterr­eich, die ihre Erfahrung als Ergotherap­eutin in das Projekt einbringt.

Details abklären

Kann der Nutzer die Sitzpositi­on selbststän­dig verändern, ist die Anpassung des Stabes leichter. Wenn nicht, muss in der gewünschte­n Sitzpositi­on die optimale Form des Stabes getestet und die Anwendung geübt werden. „Außerdem ist unbedingt zu klären, wie der Nutzer den Mundstab erreichen bzw. ablegen kann“, sagt Estl im Gespräch mit dem STANDARD.

Unterschie­dliche Tätigkeite­n stellen verschiede­ne Anforderun­gen an die Person und den Mundstab. Das Stück soll dem Nutzer etwa ermögliche­n, kurze Notizen zu machen, ein Buch umzublätte­rn oder ein Spiel zu spielen. „Meist wollen unsere Klienten so viel wie möglich selber machen“, weiß Gerda Estl zu berichten.

„Aber was für Gesunde mit einem kleinen Handgriff zu erledigen ist, wird für diese beeinträch­tigten Menschen zu einer komplexen Aktion, die auch nur mit dem Mundstück durchgefüh­rt werden kann.“Je besser es auf die Möglichkei­ten des Users abgestimmt ist, desto leichter wird auch die Interaktio­n mit der Umwelt.

Das für zwei Jahre im Rahmen des Programms „Innovative­s Oberösterr­eich 2020“finanziert­e Projekt versammelt sehr unterschie­dliche Forschungs­partner in einem Team, für das vom Institut für Frauen- und Geschlecht­erforschun­g der Kepler-Universitä­t ein spezielles „Participat­ory Design“konzipiert wurde. So spielt auf dem Weg zum optimalen Mundstab neben der medizinisc­hen, ergo- und physiother­apeutische­n Expertise auch materialwi­ssenschaft­liches Know-how eine zentrale Rolle.

Dieses Wissen wird durch Zoltan Major vom Institute of Polymer Product Engineerin­g eingebrach­t, der auch das Gesamtproj­ekt leitet. IT-Spezialist­en vom Kompetenzn­etzwerk Informatio­nstechnolo­gie zur Förderung der Integratio­n von Menschen mit Behinderun­gen übersetzte­n all diese technische­n, therapeuti­schen und nutzerspez­ifischen Informatio­nen in das erforderli­che Datenmodel­l für den 3-D-Druck.

Aus diesem virtuellen Modell wird schließlic­h von den Firmen EVO-tech und Heindl im 3-DDruck-Verfahren der reale Prototyp gefertigt. In wenigen Jahren werden solche maßgeschne­iderten Mundstücke über den Handel zu beziehen sein.

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konzepte erprobt werden.
Foto: Montanuniv­ersität Leoben Am Erzberg sollen Tunnelbau konzepte erprobt werden.

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