„Erdogan ist Sicherheitsrisiko Nummer eins“
Der Politologe hält die letzten Attentate für das Ergebnis einer verfehlten Syrienpolitik. Die Türkei werde zunehmend unregierbar.
Burak Çopur
INTERVIEW: Standard: Hat Erdogan mit der Strategie, gleichzeitig den „Islamischen Staat“und die Kurden anzugreifen, den Boden für Anschläge wie den aktuellen erst bereitet? Çopur: Die letzten Anschläge sind das Ergebnis einer verfehlten Syrienpolitik. Erdogan hat das Land durch diesen Zweifrontenkrieg, einerseits gegen den IS und andererseits gegen die Kurden, anfällig gemacht für solche Anschläge. Die Türkei wird zunehmend unregierbar. Und das, was wir bisher gesehen haben, ist nur die Spitze des Eisberges. Da kommt noch einiges auf das Land zu.
Standard: Das Grenzgebiet zu Syrien ist mittlerweile mit Duldung der Türkei ein Rückzugsort für den IS geworden. Rächt sich das nun? Çopur: Die Geister, die Erdogan mit dem IS rief, wird er nun nicht mehr los. Die Türkei ist mittlerweile tatsächlich zu einem Tran- sitland für jihadistische Kämpfer geworden. Erdogan hat sich aus rein konfessionellen Gründen auf die Seite der sunnitisch-syrischen Rebellen geschlagen und sich damit zu einer Kriegspartei im Syrienkonflikt gemacht. Damit ist er das Sicherheitsrisiko Nummer eins für die Türkei und Europa.
Standard: Welche Konsequenzen könnten die Anschläge noch haben? Çopur: Wahrscheinlich wird das wirtschaftliche Auswirkungen für den Tourismussektor haben. Nach dem Abschuss des russischen Kampfjets blieben die russischen Touristen der Türkei fern. Nach dem aktuellen Anschlag im Herzen eines touristischen Gebiets von Istanbul wird nun wohl auch noch das Geschäft mit europäischen Touristen ausbleiben.
Standard: Entwickelt sich die Türkei zu einem „gescheiterten Staat“?
Die Türkei ist auf dem besten Weg zu einem „gescheiterten Staat“. Mit dem Krieg gegen die Kurden hat sie eine zweite Front eröffnet, und man darf darauf gespannt sein, wie die PKK und die Kurdenbewegung auf diesen brutalen Staatsterror im Südosten reagieren werden. Wir haben es jetzt mit mehreren Konfliktlinien zu tun: Einerseits die Bekämpfung des IS, auf der anderen Seite bekämpft die Türkei ja mittlerweile nicht nur die PKK, sondern ihre eigene Bevölkerung in den Kurdengebieten. Die Türkei ist damit zu einem Fluchtverursacher geworden.
Standard: Was kann die EU tun? Çopur: Die EU muss beginnen, auch die Opposition unter der CHP und HDP zu fördern und die Zivilgesellschaft zu unterstützen. Bis jetzt hat die EU ihre Werte ihren Interessen in der Flüchtlingspolitik untergeordnet. Die Lösung des Flüchtlingsproblems liegt aber nicht in der Türkei, sondern in Syrien – und gerade hier arbeitet die Türkei gegen die Kurden, die für den Kampf gegen den IS so dringend gebraucht werden.
BURAK ÇOPUR ist Türkei-Experte an der Universität Duisburg-Essen.