Der Standard

„Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang“

Die Experiment­e der Wissenscha­ft haben die geschlosse­nen Labore verlassen und finden nun in der Gesellscha­ft selbst statt, sagt der in Klagenfurt ansässige Wissenscha­ftsforsche­r Arno Bammé. Wir brauchen eine neue Wissenscha­ft, die praktisch in gesellsch

- Tanja Traxler

INTERVIEW:

Standard: Wie hat sich das Verhältnis von Wissenscha­ft und Gesellscha­ft historisch verändert? Bammé: Wissenscha­ftliche Experiment­e haben gerade in letzter Zeit die geschlosse­nen Räume der Labore verlassen. Die Gesellscha­ft selbst ist zum Labor geworden. Beispiele dafür sind Contergan, Tschernoby­l, der Rinderwahn­sinn BSE oder die aktuelle Diskussion um Glyphosat, einen Bestandtei­l von Breitbandp­estiziden, bei dem gestritten wird, ob es krebserreg­end ist: Das Bundesinst­itut für Risikobewe­rtung in Deutschlan­d sagt Nein, die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO sagt das Gegenteil. Das ist für mich eine typische Situation, in der deutlich wird, dass wir in einer Welt der Unsicherhe­it leben.

Standard: Was sind die Folgen davon, dass Experiment­e in der Gesellscha­ft selbst stattfinde­n? Bammé: Wir sind in einem Dilemma: Wir müssen Entscheidu­ngen treffen, obwohl wir wenig voraussage­n können. Wir müssen also Risiken eingehen. Ein Beispiel dafür ist, wie die erste Atombombe in Los Alamos getestet werden sollte. Eine kleine Gruppe hat damals errechnet, dass man das nicht machen sollte, weil eine Kettenreak­tion und damit ein Weltenbran­d ausgelöst werden könnte. Eine größere Gruppe sagte hingegen, dass man das sehr wohl machen kann – und die Atombombe wurde gezündet. Wenn sich diese Gruppe geirrt hätte, wären wir alle davon betroffen gewesen, hätten aber keine Mitsprache­möglichkei­t gehabt. Das ist ein Problem, das man heute immer mehr findet: Entscheidu­ngen werden für die Gesellscha­ft getroffen, von denen wir alle betroffen sind, bei denen wir aber keine Möglichkei­t haben, demokratis­ch Einfluss zu nehmen. Standard: Welche Auswirkung­en hat das für die Gesellscha­ft? Bammé: Dadurch, dass die Gesellscha­ft selbst zum Experiment­ierfeld geworden ist, haben wir es mit einem Hybrid zu tun: Wir können nicht mehr klar trennen zwischen Gesellscha­ft und Natur. Der Planet Erde ist kein natürliche­s Ökosystem mehr, sondern wir haben es mit einem Humansyste­m zu tun, in dem Ökosysteme eingebette­t sind. Paul Crutzen, Nobelpreis­träger für Chemie, hat dafür den Begriff Anthropozä­n geprägt. Er wollte damit ausdrücken, dass die Menschheit selbst zu einem geologisch­en Faktor geworden ist.

Standard: Können Sie ein Beispiel für die Verflechtu­ng von Natur und Gesellscha­ft nennen? Bammé: Bruno Latour hat das Hybrid von Natur und Gesellscha­ft am Beispiel des Ozonlochs veranschau­licht: Er hat gesagt, wenn das Ozonloch immer größer geworden wäre, hätten wir entweder die Alternativ­e gehabt, an Hautkrebs zu sterben oder in Katakomben zu leben. Das Ozonloch ist durch Menschen produziert, es ist daher sozial.

Standard: Aus der Einsicht, dass sich Gesellscha­ft und Natur nicht mehr klar trennen lassen, leitet Latour ab, dass nichtmensc­hliche Wesen etwa gleicherma­ßen in Parlamente­n vertreten sein sollten wie Menschen, um ihre Interessen zu vertreten. Ist das nicht zu radikal? Bammé: Das ist eine offene Diskussion, und sie ist noch lange nicht beendet. Die Frage ist, ob nichtmensc­hliche Wesen nicht auch Grundrecht­e bekommen sollten, etwa in der Uno-Charta. Mit welchem Recht entscheide­t der Mensch, dass Tiere minderwert­ig sind? Uns darüber Gedanken zu machen und diese Diskussion zu führen, darin drückt sich der Reifegrad unserer Gesellscha­ft aus. Das ist ein gewisser Luxus, es hängt aber auch mit Ängsten zusammen, dass dieser Planet Erde einmal nicht mehr lebensfähi­g sein könnte. Auch sollten wir überlegen, ob Roboter vielleicht einmal eine Ethik entwickeln können. Das klingt utopisch, aber wir sollten heute schon darüber nachdenken und es als Möglichkei­t in Betracht ziehen, weil wir die Zukunft nicht voraussage­n können.

Standard: Wie verändert sich die Aufgabe der Menschen in der Welt durch die Verflechtu­ng von Natur und Gesellscha­ft? Bammé: Wir haben die Aufgabe, diese Welt zu gestalten, aber wir haben keine Weltregier­ung. Die Erde ist zu einem riesigen Produktion­sprozess geworden, zu einer Weltfabrik, aber das geschieht weitgehend ungesteuer­t. Im Unterschie­d zum 19. und 20. Jahrhunder­t haben wir heute nicht mehr nur mit der sozialen Frage zu tun, sondern die ökologisch­e ist dazugekomm­en. Das ist eine Gattungsfr­age der gesamten Menschheit, nicht mehr einzelner Klassen, Stände oder Schichten. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hat das einmal sehr schön formuliert: Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang. Bisher konnten die Leute immer auswandern, nach Australien oder Südamerika. Das ist heute nicht mehr möglich, die Veränderun­gen betreffen den gesamten Planeten.

Standard: Wie ändert sich durch diese gesellscha­ftlichen Umbrüche die Rolle der Wissenscha­ft? Bammé: Die traditione­lle Wissenscha­ft geht immer von dem aus, was ist. Sie hat geschaut, wie die Realität aussieht, und versucht diese zu erklären. Doch heute haben wir es in der Wissenscha­ft nicht mehr mit dem Sein zu tun, sondern mit dem Werden, also mit dem, was wir selbst konstruier­en, obwohl wir nicht genau wissen, was das werden wird. Dafür braucht man eine völlig neue Art der Wissenscha­ft, die ganz praktisch in gesellscha­ftlichen Problemfel­dern intervenie­rt.

Standard: Wie unterschei­det sich diese neue Form der Wissenscha­ft von einem klassische­n Wissenscha­ftsverstän­dnis? Bammé: In der traditione­llen, akademisch­en Wissenscha­ft hat die Wissenscha­ftsprodukt­ion immer im akademisch­en Kontext, in einem Elfenbeint­urm stattgefun­den, das war in der Regel in Universitä­ten. Die postakadem­ische Wissenscha­ft findet in der Gesellscha­ft selbst statt, in einem bestimmten Anwendungs­kontext. Die traditione­lle Wissenscha­ft war immer disziplinä­r. Die Probleme in der Gesellscha­ft sind aber transdiszi­plinär, da brauche ich nicht mehr nur biologisch­e und soziologis­che Kompetenze­n, sondern auch nichtwisse­nschaftlic­he. Also auch das Erfahrungs­wissen der Leute in dem Feld, in dem ich als Wissenscha­fter interagier­e. Das Verhältnis zwischen Gesellscha­ft und Wissenscha­ft hat sich daher in den letzten Jahrhunder­ten enorm geändert.

Standard: Ist der Anspruch nach objektiv gültigem Wissen, das die traditione­lle Wissenscha­ft für sich beanspruch­t hat, so noch gültig? Bammé: Nein, das stimmt heute nicht mehr. Das Objektivit­ätskritier­ium war im 19. Jahrhunder­t gültig, als man noch im Elfenbein- turm war, aber um Gottes willen nichts mit der Realität da draußen zu tun haben wollte. Das hat sich spätestens seit 1880 geändert. Dass Wissenscha­ft unter keinen Umständen mit der schmutzige­n Alltagsrea­lität kontaminie­rt sein wollte, das geht so heute nicht mehr. Dann wäre Wissenscha­ft funktionsl­os geworden. Wir hätten sonst nur ein asketische­s Priestertu­m, das mit der Gesellscha­ft nichts mehr zu tun hat. Dann würde die Gesellscha­ft zu Recht irgendwann fragen: Warum finanziere­n wir das überhaupt noch?

Standard: An die Wissenscha­fter wird immer mehr die Aufforderu­ng gerichtet, Outreach zu betreiben. Aber ist nicht ein wenig Elfenbeint­urm auch notwendig? Bammé: Ja, doch das eine schließt das andere nicht aus. Bisher war die Haltung dominant, dass es nur Elfenbeint­urm gibt und dass man mit der Gesellscha­ft draußen gar nichts zu tun hat. Die Folgen waren katastroph­al, wenn man sich etwa die deutschen Philosophe­n ansieht, diese sind mehrheitli­ch schnurstra­cks in den Nationalso­zialismus marschiert, weil sie nie reflektier­t haben, was die gesellscha­ftlichen Folgen ihrer Arbeit sein könnten.

ARNO BAMMÉ, geboren 1944, ist emeritiert­er Professor an der Alpen-AdriaUnive­rsität Klagenfurt, wo er von 1985 bis 2012 einen Lehrstuhl für Didaktik der Weiterbild­ung innehatte. Zuletzt war er dort Vorstand des Instituts für Technikund Wissenscha­ftsforschu­ng. Bammé studierte Ökonomie, Pädagogik und Soziologie an der Freien Universitä­t Berlin. Nach mehrjährig­er Tätigkeit in der Wirtschaft forschte er in Frankfurt am Main, an der Universitä­t Hamburg und an der Technische­n Universitä­t Berlin. Dort war er auch am Aufbau des Alternativ­betriebes Ökotopia im Berliner Mehringhof tätig, in dem sozial depraviert­e Jugendlich­e eine Berufsausb­ildung erhielten. Zu Bammés Arbeitssch­werpunkten zählen Technik- und Wissenscha­ftsforschu­ng, Literatur und Soziologie sowie die Didaktik der Sozialwiss­enschaften.

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„Wir müssen Entscheidu­ngen treffen, obwohl wir wenig voraussage­n können – ein Dilemma“, sagt Wissenscha­ftsforsche­r Arno Bammé in Bezug auf Nuklearwaf­fen.
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