Der Standard

„Gott hat keine Pudel geschaffen, wir waren es!“

Balzanprei­sträger Joel Mokyr untersucht wirtschaft­s- und kulturgesc­hichtliche Grundlagen, die die Entwicklun­g von Technologi­e möglich machten. Vielbeacht­et ist seine Arbeit zur Aufklärung als Wegbereite­rin der industriel­len Revolution.

- Alois Pumhösel

Standard: Was können wir aus Ihrer Arbeit für die Gegenwart lernen? Mokyr: Menschen sind offenbar zu grenzenlos­em technologi­schem Einfallsre­ichtum fähig und können als Kollektiv eine unglaublic­he Menge an Wissen besitzen. Immer wieder tun sich neue Horizonte auf, ähnlich einem Bergsteige­r, der einen Gipfel erklimmt und von dort neue, noch höhere Berge sieht. Das ist es, was die Geschichte des Wissens der Menschheit in den letzten 300 Jahren gezeigt hat. Deshalb werden wir als Spezies immer dominanter. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass mit steigender Macht über die Natur Dinge schiefgehe­n. Technologi­e bringt etwas mit sich, was man „bite-back“nennen kann. Man verbrennt viel Kohle und entdeckt dann, dass man CO in die Atmosphäre entlässt, mit unvorherge­sehenen Effekten.

Standard: Jede Lösung schafft also neue Probleme? Mokyr: Im 19. Jahrhunder­t entdeckten die Europäer zum Beispiel, dass man Zucker nicht aus der Karibik importiere­n muss, sondern selbst aus Zuckerrübe­n herstellen kann. Plötzlich verfiel der Preis, jeder hatte Zugang. Dann kam etwas Überrasche­ndes: Zucker macht die Zähne kaputt. Jahrzehnte später entdeckte man, dass man die Zähne mit Fluorid schützen kann. Heute sind Trinkwasse­r oder Lebensmitt­el in vielen Ländern mit Fluorid versetzt. Dann offenbarte sich, dass die Zuckervers­orgung fett macht und die Menschen an Diabetes erkranken. Jedes Mal, wenn man etwas Neues entwickelt, schlägt die Natur zurück. Das heißt, dass man laufen muss, um seine Position zu behaupten. Man muss weiter Erfindunge­n machen, sonst fällt man zurück. Keine Lösung ist jemals endgültig.

Standard: Zwischen den Bergen sind Täler. Befinden wir uns gerade im Anstieg auf einen Gipfel, oder geht’s bergab? Mokyr: Wir sind nicht in einem Tal. Wir erklimmen eine Menge an Bergen, deren Gipfel aber noch in den Wolken stecken. Wir befinden uns zum Beispiel in der Robotik dort, wo wir bei Computern in den 1960er-Jahren waren. Damals wussten wir, dass wir Computer haben würden, aber nicht genau, was wir damit tun würden. Auch in der Robotik fangen die Menschen jetzt an, das Potenzial zu erkennen, wissen aber noch nicht genau, in welche Richtung es geht. Roboter werden alle möglichen Formen annehmen und Menschen auf Arten helfen, die wir uns heute noch kaum vorstellen können. Nanoskopis­che Roboter, die wir in den Körper injizieren und die Krebszelle­n angreifen – wer weiß? Das ist ein Bereich, in dem wir gerade an der Oberfläche kratzen. Ein anderer ist – und das wird mich in Europa nicht populär machen – die Gentechnik.

Warum brauchen wir

Standard: sie? Mokyr: Wir beschäftig­en uns seit Anbeginn der Menschheit damit. Die Pferde, die wir haben, sind keine natürliche­n Pferde. Sie entstanden durch menschlich­e Einflussna­hme. Gott hat keine Pudel geschaffen, wir waren es! Die Zuchtmetho­den sind aber sehr langsame und grobe Werkzeuge. Durch genetische Modifikati­onen können wir das viel schneller und genauer machen. Wir können Pflanzen und Tiere designen, die bestimmte Spezifikat­ionen erfüllen. Das wird entscheide­nd sein, weil sich das Klima der Erde verändert. Die Opfer werden weniger die Menschen, sondern Pflanzen und Tiere sein: Getreide, Fische, Säugetiere, Pinguine. Es scheint nicht möglich zu sein, den Klimawande­l rückgängig zu machen. Die einzige Lösung ist also, die Art zu verändern, wie sich lebende Wesen an den Klimawande­l adaptieren. Genetische Modifikati­on ist meiner Meinung nach der vielverspr­echendste Weg dafür. Gentechnik ist ein Weg der Zukunft, ob die Europäer das mögen oder nicht. Wenn die Forschung nicht in Europa gemacht wird, dann eben in den USA oder anderswo. Jemand wird es machen, und die Welt wird davon profitiere­n.

Standard: Forschung muss heute im Rahmen der Wirtschaft funktio-

INTERVIEW: nieren. Wie sehen Sie den Zusammenha­ng zwischen Innovation und Wirtschaft­swachstum? Mokyr: Ganz klar ist Innovation eine Kraft, die in Richtung Wirtschaft­swachstum drängt. Man kann dieselben Produkte mit weniger Input schaffen. Dazu kommen neue Produkte, die davor nicht existiert haben. Das Smartphone gab es vor zehn Jahren nicht. Das ist auch Wirtschaft­swachstum, die üblichen Messverfah­ren tun sich aber schwer damit. Die Produkte werden zudem laufend besser. Das Auto ist heute viel komfortabl­er und sicherer als in meiner Studentenz­eit. Auch diese Qualitätsv­erbesserun­gen sollten Teil des Wirtschaft­swachstums sein. Unsere Standardme­ssverfahre­n unterschät­zen systematis­ch diesen Einfluss von Innovation auf unsere Lebensqual­ität. Mein Lieblingsb­eispiel ist die Anästhesie, die ab den 1860ern verbreitet war. Niemand würde leugnen, dass das eine riesige Verbesseru­ng der Lebensqual­ität ist. Es ist aber nicht einmal ein Zacken in einer volkswirts­chaftliche­n Statistik. Sie taucht nicht als Wirtschaft­swachstum auf. Ähnlich ist es bei Antibiotik­a und vielen weiteren Dingen. Der Rückgang des Wachstums, den wir jetzt sehen, beruht meiner Ansicht nach vor allem auf einer Fehlmessun­g. Standard: Wachstum muss also anders gemessen werden? Mokyr: Der Output der Wirtschaft – das, was wir mit dem Wirtschaft­swachstum messen – beinhaltet zum Beispiel nicht die Freizeit. Wenn jeder zwei Stunden weniger arbeitet, um Opern zu hören oder Videogames zu spielen, ist das für mich eine Art von Wirtschaft­swachstum. Freizeit ist ein wertvolles Gut. Eine Wirtschaft kann wachsen, ohne dass sie notwendige­rweise mehr Waren produziert. In Zukunft werden viele Menschen noch viel weniger arbeiten. Das passiert schon jetzt.

Standard: Inwiefern? Mokyr: Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts lag die durchschni­ttliche Arbeitszei­t in der industrial­isierten Welt bei 3200 Stunden pro Jahr, heute bei der Hälfte. Das ist eine Form von Wachstum. Wenn Maschinen unsere Nahrung und Kleidung fertigen, werden wir noch viel weniger arbeiten. Ich kann mir eine Welt vorstellen, in der nur noch Menschen arbeiten, die wollen. Langweilig­e Jobs werden von Maschinen übernommen. Wachstum kann viele Formen annehmen. Es kann heißen, dass wir mehr Stahl oder Öl produziere­n. Oder es kann eine Welt sein, wo wir mehr Zeit haben, uns an den Dingen zu erfreuen.

Standard: Warum startete die rapide Technologi­sierung gerade in Europa und nicht in einer Blütezeit in China, Arabien oder Persien? Mokyr: In der frühen Neuzeit – zur Zeit der großen Entdeckung­en und von Martin Luther – entstand in Europa etwas, das grundsätzl­ich anders war als in anderen Kulturen: Man wurde weniger respektvol­l gegenüber dem Wissen, das von den Vorfahren stammte. Jede Gesellscha­ft hat einen gewissen Respekt vor dem Wissen früherer Generation­en. Die Chinesen glaubten daran, dass sich die Wahrheit Menschen offenbart hatte, die vor langer Zeit gelebt hatten. Bei den Juden war das ähnlich, ebenso im Islam. Im Mittelalte­r war das auch in Europa so.

Standard: Was änderte sich? Mokyr: Aristotele­s und der klassische Kanon hatten die Antwort auf alles. Aber dann begannen sich die Leute in Europa am Kopf zu kratzen. Denn was sie entdeckten, widersprac­h den alten Schriften. Galileo, Torricelli, Tycho Brahe entdeckten Dinge, die vollkommen inkonsiste­nt mit dem antiken Kanon waren. Man adaptierte also die Sichtweise, dass alles zuerst getestet werden müsse. Und damit starteten die Europäer neu. Sie erkannten, dass sie smarter waren als die Menschen in früheren Generation­en. Das zu schaffen ist sehr schwer. Für viele war die Weisheit der Vergangenh­eit ein Gefängnis, die Europäer fanden den Weg aus diesem Gefängnis.

JOEL MOKYR, geboren 1946 in den Niederland­en, studierte in Jerusalem und Yale, bevor er Professor für Wirtschaft und Geschichte an der Northweste­rn University in den USA wurde. Der Wissenscha­fter mit US-amerikanis­cher und israelisch­er Staatsbürg­erschaft war Gastprofes­sor in Stanford, Harvard und an der Hebrew University of Jerusalem. 2015 erhielt er den renommiert­en Balzan-Preis.

Das Interview erfolgte auf Einladung der Balzan-Stfitung.

 ??  ?? Die Europäer schafften zu Beginn der Neuzeit etwas, was kaum einer anderen Kultur gelang: Sie stellten
das überliefer­te Wissen infrage. Das ebnete letzten Endes den Weg für die industriel­le Revolution.
Die Europäer schafften zu Beginn der Neuzeit etwas, was kaum einer anderen Kultur gelang: Sie stellten das überliefer­te Wissen infrage. Das ebnete letzten Endes den Weg für die industriel­le Revolution.
 ?? Foto: Peter Mosimann ?? Joel Mokyr verbindet Wirtschaft­swissensch­aften mit Geschichte und Erkenntnis­theorie.
Foto: Peter Mosimann Joel Mokyr verbindet Wirtschaft­swissensch­aften mit Geschichte und Erkenntnis­theorie.

Newspapers in German

Newspapers from Austria