Genosse Vater im Kampf mit General Angst
Ernst M. Binder zeigt Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“im Forum Stadtpark
Graz – „Das ist die pessimistische Variante der Hoffnung, dass die Festung Europa auf Dauer gehalten werden kann. All diese Visionen unterschlagen, dass die Dritte Welt eine Macht ist, dass die, auf deren Kosten man lebt, dem nicht ewig tatenlos zusehen werden. Dazu bedarf es keiner militärisch-ökonomischen Stärke. Es reicht völlig, wenn sich Millionen Verelendeter in Bewegung setzen.“Die Worte kommen vom Band, im Bühnenraum des Grazer Forums Stadtparks, bevor Heiner Müllers Wolokolamsker Chaussee beginnt.
Es ist Müllers Stimme, mit der Regisseur Ernst M. Binder, der den Dramatiker gut kannte, das Publikum begrüßt. Wüsste man nicht, dass Müller seit 20 Jahren tot ist, könnte man meinen, jemand habe ihn zur aktuellen Flüchtlingskrise befragt. Doch es ist ein Auszug aus einem Interview, das der Publizist und Regisseur Frank M. Raddatz 1991 in Berlin führte.
Gleich danach geht es zurück in der Zeit. In den Zweiten Weltkrieg, in dem auch der namensgebende sowjetische Roman von Alexander Bek spielt. Müller entlieh Bek den Titel und Figuren für seinen fünfteiligen Textzyklus, der in der Wendezeit uraufgeführt wurde. Zumindest in den ersten beiden Teilen. Da jagt ein selbst von Zweifeln geplagter Kommandant (Mona Kospach) seine jungen Soldaten gegen die im Wald lauernden deutschen Panzer. Und er kämpft mit ihnen gegen den noch gefährlicheren Feind, den „General Angst“, treibt die Männer in scheinbar aussichtslose Situationen. „Solange wir sterben, kämpfen wir, solange wir kämpfen, sterben Deutsche. Wer hat mehr Blut?!“, brüllt er.
Binder, Chef der Gruppe Drama Graz und durchaus ein Freund des Brecht’schen Lehrstücks, hat für seine Koproduktion mit dem Forum Stadtpark alle Figuren mit Frauen besetzt. Sie erzählen neben und auf einem Puch Haflinger den Verlauf der Geschichte.
Die Teile drei bis fünf spielen in der DDR. Müller zeigt die inneren und äußeren, die braunen und stalinistischen Feinde einer sozialistischen Utopie und das Scheitern des real existierenden Sozialismus, unter anderem in einer Bearbeitung von Kafkas Verwandlung: Bei Müller mutiert Gregor Samsa (Gina Mattiello) nicht zum Käfer, sondern verwächst mit seinem Schreibtisch, verholzt bis ins Innerste.
Mit Marx und Engelszungen
Es wird gepredigt „mit Marx und Engelszungen“, wie es im Text heißt. Die Fragen zu Verantwortung und Haltung haben bis heute Berechtigung. Es wird auch herrlich gesächselt, wenn sich Vera Hagemann und Ninja Reichert als Parteiclowns streiten.
Die Bearbeitung von Kleists Findling holt schließlich den Vater-Sohn-Konflikt in die Zeit des Prager Frühlings. Im Chor, zwei gegen zwei, beweisen die Schauspielerinnen starke Bühnenpräsenz, wenn „Genosse Vater“den Adoptivsohn als Nazibastard beschimpft und verrät. Letzterer, dem einst das rote Halstuch Nabelschnur war, will und kann die Mauertoten und den „Bruder“, der sich in Prag verbrannte, nicht mehr vergessen. Am Ende übernimmt Hagemann die Rolle des Sohnes allein und eindrucksvoll. Nächster Termin: 13. 1., 20.00 pdramagraz. mur.at Standard: Sowohl Brecht als auch Weill zeichnet es aus, dass sie Banales und Artifizielles miteinander verbinden. Theodor W. Adorno hat von „Depraviertheit“gesprochen, dass verbrauchte Elemente brüchig daherkommen – und besonders musikalisch hört man das, durch einen faszinierenden Ton ... Kalitzke: Das ist genau der Punkt. Es ist nicht so, dass es da nur um eine Entwertung geht. Dass etwas entfremdet oder entwertet ist, schafft gleichzeitig etwas Neues von eigenem ästhetischem Wert. Das Schönheitspotenzial wird dadurch nicht herabgesetzt, sondern es ergibt sich eine neue Schönheit.
Standard: Das lässt sich aber erst im Nachhinein erkennen. Kalitzke: Ja, der sensationelle Schockeffekt, den die Dreigroschenoper bei ihrer Uraufführung gehabt haben mag, lässt sich nicht mehr reproduzieren. Man kann mit ihr heute niemanden mehr erschrecken oder vor den Kopf stoßen. Also fokussiert man auf die nostalgische Seite, weil die Welt der 1920er-Jahre in der Klanglichkeit wiederauftaucht. Auch eine Inszenierung, die nur das zeigt, was im Text steht, würde sich lächerlich machen. Man muss eigentlich die ganze Rezeptionsgeschichte und die Zeit zwischen 1928 und heute mit einrechnen.
Standard: Was schätzen Sie aus der Warte des Komponisten am meisten an Weill? Kalitzke: Die Ökonomie: Wie er mit so wenigen Instrumenten einen solchen klanglichen Reichtum herstellt. Es ist erstaunlich, wie wenig er für so eine Rundheit braucht. Die Musik ist auf das Mindeste reduziert und klingt trotzdem voll. Das ist unglaublich faszinierend.
Standard: Gibt es etwas in Weills Welt, das Sie selbst in Ihrer Arbeit fortführen? Kalitzke: Die Kombination von Trivialität und Poetik ist für mich ein Dauerthema. Ein Cellokonzert beispielsweise, das ich gerade zu schreiben habe, beruht auf einem Format der Modefotografie, wo ein Märchenwald inszeniert und ein kommerzielles Exponat ganz an den Rand gerückt wird: Das Triviale, um das es geht, wird in einen mythischen Raum gestellt. Es gibt ja seit dem frühen 20. Jahrhundert auch in der Literatur sehr viele Vorbilder, wo Trivialität und Mythologie einander überlagern. Die Spiegelungen von Banalität und Tiefenpsychologie sind seither ein großes Thema. So etwas finden Sie auch bei Brecht und Weill – wenn Sprache und Musik manchmal aus dem Vulgären heraus plötzlich etwas ganz Allgemeingültiges entwickeln und dabei bezaubernd schön sind.
JOHANNES KALITZKE (geb. 1959) ist ein international gefragter Dirigent und Komponist. Seine vierte Oper „Die Besessenen“wurde 2010 im Theater an der Wien uraufgeführt. 2012 dirigierte der gebürtige Kölner die Uraufführung der „American Lulu“an der Komischen Oper Berlin. Er lebt in Köln und Wien.