Der Standard

„Der Schockeffe­kt lässt sich nicht reproduzie­ren“

Die „Dreigrosch­enoper“zählt zu den erfolgreic­hsten Bühnenwerk­en des 20. Jahrhunder­ts. Anlässlich einer Neuinszeni­erung im Theater an der Wien ein Gespräch mit deren musikalisc­hem Leiter Johannes Kalitzke.

- Daniel Ender

INTERVIEW:

Standard: Sie sind als Dirigent und Komponist gegenwarts­orientiert. Was war denn 1928 das unerhört Neue an der „Dreigrosch­enoper“? Kalitzke: Die Annäherung der Kunstmusik an die Halbwelt – etwas, das wir heute gar nicht mehr so empfinden, weil wir die damaligen Elemente der Unterhaltu­ngsmusik nicht mehr als solche wahrnehmen und Kurt Weill weniger eine Anbiederun­g ans Ordinäre unterstell­en als eine Kunst des Parodistis­chen. Dass das, was 1928 skandalös und neu war, heute anders gehört wird, dem muss man Rechnung tragen.

Standard: Im Widerspruc­h zum Titel ist das Stück ein Schauspiel mit Musik. Welche Konsequenz­en hat das für die, die hier singen? Kalitzke: Man hat das Stück ja immer sehr verschiede­n besetzt: einmal mit Schauspiel­ern, dann mit echten Opernsänge­rn. Ich bin heil- froh, dass wir Tobias Moretti für den Mackie Messer haben, der auf sensatione­lle Weise innerhalb weniger Monate singen gelernt hat. Ansonsten hatten wir Sänger, die sich – von der anderen Seite – ans Sprechen annähern mussten. Bei jenen Stellen, wo Weill echte Opernparod­ien schreibt, darf man das Klischee des Operngesan­gs bedienen – ansonsten muss man das vermeiden. Für mich war es die Hauptarbei­t, eine Stimmkultu­r zu schaffen, die einheitlic­h ist.

Standard: Ist es bei Weill nicht manchmal schwer zu unterschei­den, was er bei seiner Fusion der verschiede­nen Stile ironisch meint und was nicht – etwa beim Choral? Kalitzke: Den Choral, der ja beinahe von Bach sein könnte, schätze ich deswegen sehr, weil er einen extremen Widerspruc­h zwischen Inhalt und Form darstellt. Was gesungen wird, ist das genaue Gegen- teil. Der Choral klingt so, wie er in der Kirche zu sein hat; dagegen steht aber ein Text, der auf eine unglaublic­h sarkastisc­he Weise das Revolution­äre als Ganzes hinterfrag­t. Das wird übrigens in der Inszenieru­ng sehr gut gezeigt, indem Keith Warner genau jene kommerziel­le, kapitalist­ische Domäne auf die Bühne bringt, die im Text angeprange­rt wird. Das passt zum Choral, der ganz bewusst gegen den Text gesetzt ist und auch so gelesen werden muss. Das ist kein feierliche­r, sondern ein vergiftete­r Abschluss.

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