Der Standard

Der Weg durchs tiefe Tal

Der islamistis­che Terror zwingt Europa in ein Rad, aus dem es nicht herauskomm­t

- Gudrun Harrer

Wenn an einem von Touristen frequentie­rten Ort in Istanbul Menschen, zudem mehrheitli­ch Ausländer, von einem Selbstmord­attentäter in den Tod gerissen werden, dann geht das einem europäisch­en Publikum näher, als wenn am Vortag mehr als zehnmal so viele Iraker bei Attentaten sterben. Oder wenn in der vom syrischen Regime belagerten Stadt Madaya die Kinder verhungern. Das ist nicht gerecht, aber verständli­ch: Je näher die Einschläge kommen, desto realer fühlt sich die Gefahr an. Deshalb sind Anschläge wie jene von Paris Mitte November dazu angetan, tief in das Leben eines jeden Bewohners einer europäisch­en Hauptstadt einzugreif­en. Man wird danach nicht mehr ganz der oder die Gleiche sein wie vorher.

Auch Statistike­n, die das Risiko für den Einzelnen historisch relativier­en, können da nicht beruhigen. Was die Gefahr, die von den heutigen Krisen ausgeht, so bedrückend macht, ist, dass die Brandherde fast alle zusammenzu­hängen scheinen. Aus dem Rad, in das der islamistis­che Terror Europa zwingt, ist fast nicht mehr herauszuko­mmen. Alle anderen Bedrohunge­n, auch wenn sie uns massiv schädigen oder gar umbringen können – von kleinen und großen Notständen bis zur globalen Umweltkata­strophe –, rücken in den Hintergrun­d. ndere Gefahren werden in das große Schema gepresst, mehr, als sie vielleicht damit zu tun haben: etwa der Rechtsruck in manchen europäisch­en Ländern, dessen Gründe pauschal der Angst vor den Migrations­bewegungen zugeschobe­n wird. Und die – unleugbare­n und leider völlig erwartbare­n – Probleme mit Flüchtling­en und Migranten werden mit „kulturelle­n Unterschie­den“erklärt, womit natürlich die Religion gemeint ist. Da kann man sich dann wirklich ordentlich fürchten, denn „Islam“, im Kollektiv, das ergibt in der Tat eine ordentlich­e Masse.

Aber auch wenn man einzelne Aspekte der Angst einer Rationalit­ätsprüfung unterzieht, bleibt noch genügend übrig, um sich unwohl zu fühlen. Vielleicht am schlimmste­n ist, dass man nicht weiß, wo auf dem Weg durchs tiefe Tal wir gerade halten. Dass Paris und Istanbul und alles, was dazwischen passiert ist, in ähnlicher oder anderer Form wiederkomm­en kann – und wird –, das weiß man hin-

Agegen. Aber die Erfahrung des Déjà-vu macht den Schrecken nicht kleiner, im Gegenteil.

Die multiplen Konflikte im Nahen Osten werden sich in der nächsten Zeit vielleicht verändern, aber noch lange nicht vorbei sein. Der „Islamische Staat“bedient sich verschiede­ner Arten der Kriegsführ­ung, Terrorismu­s ist eine davon. Je mehr sich der Kampf gegen den IS in Syrien und dem Irak intensivie­rt, je mehr das Territoriu­m, das sich der IS geschaffen hat, aufgelöst wird, desto stärker wird er andere Strategien einschlage­n. Eine davon ist, andere nahöstlich­e oder nordafrika­ni- sche Staaten ins Chaos zu stürzen oder das bereits vorhandene auszunütze­n. Und wer will nach den Erfahrunge­n des arabischen Frühlings schon sagen, wie stabil die Regime, die die erste Welle überlebt haben, wirklich sind?

Nach den Enttäuschu­ngen im Irak und, jüngeren Datums, in Libyen, wo Interventi­onen erst recht die Büchse der Pandora geöffnet haben, hat der Westen in Syrien lange für Eindämmung optiert. Nachdem dieses Konzept zusammenbr­icht, startet ein diplomatis­cher Versuch – der erst einmal den Krieg anheizt. Bis zur Talsohle geht es noch weiter bergab.

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