Der Standard

Will Sozialleis­tungen für Flüchtling­e kürzen. Dadurch würde ein Flüchtling­sproletari­at entstehen, befürchtet

Reinhold Lopatka Martin Schenk. Jenen, die durch ihre Steuerleis­tung unser dichtes Sozialnetz finanziere­n, reicht es irgendwann. Das wird den Sozialstaa­t nicht zusammenbr­echen lassen, auch wenn die Zahl der Bezieher noch steigt.

- Günther Oswald

INTERVIEW: STANDARD: Sie verdienen als Klubobmann knapp 14.800 Euro im Monat. Könnten Sie mit Familie auch von 1500 Euro leben? Das stellen Sie sich als Obergrenze bei der Mindestsic­herung vor. Lopatka: Erstens hätte ich dazu die Kinderbeih­ilfe, die Sie verschweig­en. Zweitens ist Ihr Vergleich unfair. Mein Gehalt ist ein Bruttobetr­ag, von dem Klub- und Parteibeit­räge abgezogen werden – und weniger als 50 Prozent bleiben, während die Mindestsic­herung ein Nettobetra­g ist und eine Reihe von Gebührenbe­freiungen impliziert.

STANDARD: Stimmt schon, aber die Frage war, ob Sie mit Familie von 1500 Euro leben könnten. Lopatka: Wenn es sein muss, wird man damit auskommen. Mein Punkt ist: Gibt es Anreize, dass man aus der Mindestsic­herung rausmöchte? Oder sagt man: Es geht auch in dem System. Der Rechnungsh­of hat eine Reihe von Fällen aufgezeigt, wo bei der Mindestsic­herung mehr als 4000 Euro herausgeko­mmen sind. Das versteht niemand, der einen Kollektivv­ertrag von unter 1500 Euro hat – und das sind große Gruppen. Schenk: In diesem Bericht ist nicht alles richtig. Und er ist nicht repräsenta­tiv. Das fiktive Familienbe­ispiel würde in Salzburg, Tirol und Vorarlberg vier Fälle betreffen, die 4000 Euro bekommen – und nicht alles aus der Mindestsic­herung. Da geht es um Behinderun­g eines Elternteil­s und Kindeswohl. Lopatka: Wir haben allein in Oberösterr­eich hunderte Fälle, die mehr als 2000 Euro Mindestsic­herung bekommen. Da muss ein Arbeitnehm­er 3200 brutto verdienen, um netto gleich viel zu haben.

STANDARD: Was spricht aus Ihrer Sicht gegen eine Deckelung? Schenk: Dass die wenigsten Eltern die volle Mindestsic­herung beziehen. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel aus der Sozialbera­tung. Nennen wir sie Judith. Diese Frau hat drei Kinder, arbeitet Teilzeit als Restaurate­urin und bekommt, weil sie sonst nicht über die Runden kommt, einen Aufstocker­beitrag aus der Mindestsic­herung. Eines ihrer Kinder ist krank und braucht Diätnahrun­gsmittel. Wenn man Judith die Unterstütz­ung auf 1500 Euro runterkürz­t, kann sie sich die Nahrungsmi­ttel für das Kind nicht mehr leisten. Und das ist kein Einzelfall. Fast 70 Prozent der Mindestsic­herungsbez­ieher sind solche Aufstocker, die ein Einkommen aus einer Erwerbstät­igkeit haben, Unterhalt, Arbeitslos­engeld oder Notstandsh­ilfe beziehen. Sie verbreiten also ein altes Bild der Sozialhilf­e aus den 80ern, dass das alles Alkoholike­r, Spielsücht­ige und Haftentlas­sene sind. Lopatka: Das ist einfach falsch. Ich habe in meinem Heimatort, in Penzendorf, einen tschetsche­nischen Flüchtling, der fünf Kinder hat, seit zehn Jahren bei uns ist, noch nie gearbeitet hat, immer Sozialleis­tungen bezogen hat, und – wie es aussieht – immer in der Mindestsic­herung bleiben wird. Schenk: Ich spreche von der Empirie, nicht von Anekdoten. Lopatka: Das ist doch keine Anekdote. Das ist das reale Leben. Schenk: Real haben wir heute eine ganz andere Situation als in den 80ern. Damals gab es in der Sozialhilf­e viele Dauerempfä­nger: Leute mit starken Einschränk­ungen, die kaum aus der Sozialhilf­e herausgeko­mmen sind. Seither hat sich das stark verändert. Heute gibt es in der Mindestsic­herung viele Mütter mit Kindern, viele Alleinerzi­ehende, Pflegebedü­rftige, viele Behinderte, Leute, die prekär beschäftig­t sind. Lopatka: Und immer mehr Flüchtling­e. Die haben einfach das Pech, dass sie den Einstieg in den Arbeitsmar­kt nicht schaffen. Oder wollen Sie das bestreiten? Schenk: Es werden mehr. Wir rechnen heuer mit 30.000 bis 40.000 Flüchtling­en in der Mindestsic­herung – je nachdem, wie schnell die Verfahren abgewickel­t werden. Die Deckelung würde aber alle treffen. Außerdem wissen wir: Entgegen der Lohnabstan­dstheorie kommen Leute mit Kindern wesentlich schneller aus der Mindestsic­herung heraus als Alleinsteh­ende. Insgesamt beträgt die durchschni­ttliche Bezugsdaue­r sechs bis neun Monate. Das Bild, dass es sich die Leute in der Mindestsic­herung bequem machen, stimmt so einfach nicht. 20 Prozent beziehen sie sogar kürzer als drei Monate. Statt über Deckelunge­n sollten wir darüber reden, wann Menschen wieder aus der Mindestsic­herung herauskomm­en. Da geht es um Kinderbetr­euung, um gesundheit­liche Hilfe und um Jobs, von denen sie leben können.

STANDARD: Aber was macht man mit jenen, die nicht Teilzeit arbeiten und mit vier Kindern jahrelang 2000 Euro Mindestsic­herung kriegen? Fehlen hier nicht tatsächlic­h Anreize, einen Job anzunehmen? Schenk: Hauptprobl­em bleibt: Auf einen Job kommen 15 Bewerber. Aber es gibt auch für die Mindestsic­herung gescheite Vorschläge: Man könnte die Zuverdiens­tgren- zen erhöhen – auf 25 oder 33 Prozent der Mindestsic­herung. Diese Idee gab es schon 2010, das Finanzmini­sterium hat das damals abgelehnt. Man könnte auch die Einglieder­ungsbeihil­fe ausweiten – also Betrieben eine Unterstütz­ung gewähren, damit sie Leute anstellen. Auch wenn wir auf Mitnahmeef­fekte achten müssen, das würde wirken.

STANDARD: Zu wenig? Lopatka: Ich finde schon. Wir müssen eines sehen: Jenen, die durch ihre Steuerleis­tung unser dichtes Sozialnetz finanziere­n, reicht es irgendwann. 2009, bei der Einführung, hatten wir 170.000 Mindestsic­herungsbez­ieher, jetzt haben wir allein in Wien mehr. Und heuer werden noch einmal 40.000 Flüchtling­e dazukommen. Die Lage hat sich also dramatisch verschärft. 30 Prozent der Afghanen, die zu uns kommen, haben nicht einmal einen Grundschul­abschluss. Die werden in unserer hochtechno­logisierte­n Welt in den nächsten Jahren nicht den Einstieg in den Arbeitsmar­kt schaffen. Im Gegensatz zu Deutschlan­d haben wir auch keine Budgetüber­schüsse, daher stellt sich die Frage der Finanzierb­arkeit unseres Sozialsyst­ems. Da ist es mir lieber, rechtzeiti­g einzuschle­ifen als dann brutale Kahlschläg­e machen zu müssen.

STANDARD: Aber eine Deckelung trifft natürlich auch heimische Familien. Normalerwe­ise behauptet die ÖVP immer, die Familien seien ein Kernthema für sie. Lopatka: Absolut, dafür gibt es aber die Familienle­istungen. Außerdem gibt es längst in anderen Bereichen eine Deckelung: Beim Arbeitslos­engeld oder auch bei Pensionist­en.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass generell der Arbeitswil­le fehlt? Lopatka: Nein, mir wird aber aus dem AMS berichtet, dass es vor allem in Wien leicht ist, in der Mindestsic­herung zu bleiben und Jobs nicht anzunehmen. Schenk: Das Verhältnis zwischen Stadt und Umland ist bei anderen Städten ähnlich: zwischen drei zu eins und sieben zu eins. Für höhe- re Bezieherza­hlen in Großstädte­n gibt es Gründe: keine Anonymisie­rung, weniger verwertbar­e Eigentumsw­ohnungen. Und die Sozialämte­r im Umland schicken die Leute oft in die Städte. Insgesamt macht die Mindestsic­herung 0,7 Prozent des Sozialbudg­ets aus. Das wird den Sozialstaa­t nicht zusammenbr­echen lassen, auch wenn die Zahl der Bezieher noch steigt. Verteilung­spolitisch reden wir von den untersten drei Prozent der Bevölkerun­g.

STANDARD: Oberösterr­eich will die Mindestsic­herung für Flüchtling­e sogar halbieren. Wie soll man von weniger als 400 Euro leben? Lopatka: Alle Flüchtling­e, die in der Grundverso­rgung sind, müssen schon jetzt mit einer ähnlichen Summe auskommen. Wir müssen Regeln aufstellen, damit eine möglichst große Gruppe in der Grundverso­rgung bleibt und nicht in die Mindestsic­herung kommt. Subsidiär Schutzbere­chtigte sollen generell aus dem BundLänder-Vertrag zur Mindestsic­herung herausgeno­mmen werden.

STANDARD: Befürchten Sie nicht, dass die Kriminalit­ät steigt, wenn Leute auf Dauer von weniger als 400 Euro leben müssen? Lopatka: Um es klar zu sagen: Das Paradies gibt es nicht auf dieser Welt. Die Menschen haben ja die Wohnversor­gung. Zehntausen­de Flüchtling­e schaffen es auch jetzt, da durchzukom­men, ohne kriminell zu werden. Schenk: Ich sehe zwei Schwierigk­eiten: Wir werden ein Quartierpr­oblem bekommen, wenn die Leute nicht aus der Grundverso­rgung kommen. Und wir schaffen eine Art Flüchtling­sproletari­at, Reinhold Lopatka (56) ist seit Dezember 2013 Klubobmann der ÖVP. Davor war er bereits Staatssekr­etär im Finanz- und Außenminis­terium sowie im Kanzleramt. Der studierte Jurist und Theologe arbeitete zu Beginn seiner Karriere im Sozialhilf­everband Hartberg und ist Vater dreier Söhne. das keine Perspektiv­e hat und dahinverel­endet – mit allen gesellscha­ftlichen Kosten. Und in 20 Jahren sagen wir dann: Wir haben geglaubt, die gehen eh wieder heim und haben sie deshalb nicht integriert. Daher: Seien wir pragmatisc­h, investiere­n wir in diese Leute und unterstütz­en sie, in den Arbeitsmar­kt zu kommen.

STANDARD: Die ÖVP möchte auch verstärkt auf Sach- statt Geldleistu­ngen setzen. Ist das nicht ein Widerspruc­h zur Wahlfreihe­it, die sonst gerne propagiert wird? Lopatka: Es ist kein Widerspruc­h. Zum einen gibt es durch die Flüchtling­e immer mehr Bezieher mit vielen Kindern. Da möchte ich, dass die Unterstütz­ung wirklich bei den Kindern für Schulartik­el, Lebensmitt­el etc. ankommt.

STANDARD: Wie stellen Sie sich das konkret vor? Ich kriege dann 28 Euro für Schulartik­el? Lopatka: Man vergibt Gutscheine und kann somit das Geld nicht für andere Dinge ausgeben. Bei Lebensmitt­elgutschei­nen würde explizit geregelt, dass ich keine Alkoholika kaufen kann. Schenk: Das geht jetzt schon, und bei Alkoholkra­nken wird das auch gemacht, weil es hier um Kinderschu­tz geht. Sachleistu­ngen bei Wohnen, Bildung, Arbeitsmar­kt sind gut, werden wir zusätzlich brauchen. Aber: Sie gehen wieder von einem Bild aus, als müssten alle 250.000 Bezieher der Mindestsic­herung paternalis­tisch betreut werden und könnten nicht mit ihrem Geld umgehen. Das Gegenteil ist der Fall: Der Großteil sind Leute wie du und ich, die gezwungen sind, mit jedem knappen Cent genau zu planen. Die brauchen sich nicht von Ihnen entmündige­n lassen. Das pauschal zu machen, halte ich für nicht sachgerech­t, sondern für populistis­ch. Lopatka: Ich halte es für die beste Form, dass das Geld wirklich zu 100 Prozent dafür verwendet wird, wofür es vorgesehen ist. Es stimmt, dass man das alles jetzt schon kann. Wir wollen statt einer Kann- eine Mussbestim­mung. Martin Schenk (45) ist Vizedirekt­or der Diakonie Österreich. Seine Arbeitssch­werpunkte sind Sozialund Wohlfahrts­politik. Der Wiener ist auch Mitbegründ­er der Armutskonf­erenz, eines Netzwerks zahlreiche­r sozialer Hilfsorgan­isationen, und Lehrbeauft­ragter für den FH-Studiengan­g Sozialarbe­it am Campus Wien.

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