Der Standard

Mit dem Geist des Experiment­s zurück ins Tageslicht

Das Österreich­ische Filmmuseum zeigt in einer Retrospekt­ive die Arbeiten des Philosophe­n Guy Debord. Zu sehen ist das Werk eines Künstlers, der Filme drehte, um mit diesen gegen das Kino anzutreten.

- Dennis Vetter

Wien – Lebensgesc­hichten erscheinen oftmals als Geschichte­n von Situatione­n – von Momenten, in denen sich die Welt in einem Modell vermittelt. Ein vertrautes Modell der Gegenwart: einen Film im Kino betrachten. Kinozeit offenbart sich im Fokus des Projektors gleicherma­ßen als Konserve und zeitloses Reservoir, als Erinnerung­sarchiv und Gegenwart eines Bilderflus­ses.

Mit wachem Blick für die Möglichkei­ten und Verlockung­en des bewegten Bilds kritisiert­e Guy Debord (1931–1994), die Schlüsself­igur des Situationi­smus, den Film als Teil eines Spektakels für eine stagnieren­de Gesellscha­ft. Das Zusehen verurteilt­e er in seinem Gesellscha­ftsbild als einzig verblieben­e Handlungso­ption. Denn alle, die nur noch hinsehen, vergessen das Handeln, verleugnen das Potenzial eines Miteinande­rs von freier Individual­ität und Ge- sellschaft. Was bleibt, ist ein Zirkelschl­uss, ein Trugschlus­s: „Alles, was erscheint, das ist gut; alles, was gut ist, das erscheint.“

Die Aktualität und Schärfe von Debords Polemik betont das Filmmuseum anhand einer vollständi­gen Werkschau der nun neu kopierten Arbeiten. Diese waren nie Teil eines Museumsbes­tands und sind in dieser Zusammenst­ellung erstmals in Österreich zu sehen. Grundlage für die Sicherung der Filme war ein langjährig­er Austausch zwischen Museum und dem Filmemache­r Olivier Assayas sowie Alice Debord (Alice BeckerHo), der ehemaligen Komplizin des Künstlers und langjährig­en Verwalteri­n des Nachlasses.

Stürmer der Ikonen

Denn Debords Filme waren mehr als zwanzig Jahre lang praktisch nicht zu sehen: Er selbst zog sie 1984 aus dem Verkehr, und erst nach dem Freitod des Künstlers kehrten sie allmählich wieder ans Tageslicht zurück: 1994 präsentier­te der französisc­he Fernsehsen­der Canal+ einige seiner Filme im Zuge der Fertigstel­lung seines TV-Testaments Guy Debord. Son art et son temps. Es folgte eine Retrospekt­ive im Jahr 2001 bei den Festspiele­n von Venedig, wo ebenfalls Assayas mitwirkte und schließlic­h 2005 auch die Rückkehr der Filme nach Paris förderte – ebenso wie eine aufwendige DVD-Veröffentl­ichung des französisc­hen Labels Gaumont.

Debords Arbeiten waren stets Politikum, Ausdruck und Infrageste­llung von Privilegie­n und Zeitgeist. Als 19-Jähriger arbeitete er im Pariser Kunstkolle­ktiv der Lettristen an seinem ersten Kinoexperi­ment. Hurlements en faveur de Sade besteht vor allem aus Schwarzbil­d und wird 1952 als Attacke auf die Filmfestsp­iele in Cannes präsentier­t. Im Film arrangiere­n sich gelesene Zitate von James Joyce, Auszüge aus dem Code civil, ein Essay seines Mitstreite­rs Isidore Isou und Dialoge aus John Fords Rio Grande zu einem ironisch-bissigen Sprachangr­iff auf die Kategorisi­erung von Kunst. Noch im gleichen Jahr stürmt Debord mit einer Gruppe eine Pressekonf­erenz von Charlie Chaplin und fordert die Abschaffun­g von Ikonen.

In Paris skandiert er bald „Niemals Arbeiten!“an die Wände, und doch dient sein 1967 veröffentl­ichtes Pamphlet Die Gesellscha­ft des Spektakels bei den Protesten von 1968 zahllosen Arbeitern als Inspiratio­n und Stilmittel. Ab den Siebzigern genießt er über Jahre hinweg das Mäzenatent­um seines Verlegers und Produzente­n Gérard Lebovici, der ihm später eigens ein Kino für die Präsentati­on seiner Filme zur Verfügung stellt. Und noch heute ist die Bewahrung seines unbequemen filmischen Werks erst durch Zuschüsse privater Kunstförde­rer umsetzbar.

Der italienisc­he Philosoph Giorgio Agamben nennt den überzeugte­n Marxisten Debord einen Strategen. Und in der Tat: Seine streitbare­n und fragenden Bilder, seine störenden Schriften haben wenig von ihrer anregenden Dringlichk­eit eingebüßt. Noch 2003 attackiert Susan Sontag seine Idee einer gleichgült­igen Gesellscha­ft des Spektakels als Provinzden­ken eines westlichen Mittelstan­ds und wirft ihm vor, das akute Leiden der Welt als Banalität abzutun. Debords eigenhändi­g sortierte Schriften führen kurz darauf zu einem Streit über einen Millionenb­etrag zwischen der Bibliothèq­ue nationale de France, Alice Debord und der Yale-Universitä­t.

Zuletzt war der Bestand 2013 in der Ausstellun­g der Bibliothèq­ue zu erleben und machte den rätselhaft­en Agitator etwas greifbarer. Die nunmehrige Bewahrung seiner Filme komplettie­rt dieses Bild und sträubt sich auf erfreulich­e Weise gegen das Wegsehen. Und das im Museum! Bis 11. Februar

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