Der Standard

Mit Reizen nicht geizen – oder: Arpeggio praecox

Von der Minimal Music zur Überflutun­g der Sinne: Komponist Lubomyr Melnyk gastiert in Wien

- Christian Schachinge­r

Wien – In einem Bächlein helle, da schwimmt nicht nur die Forelle. Wenn es um stetig fließende, gluckernde, sprudelnde und tosende Musik und naheliegen­de Vergleiche geht, wird in deren Beschreibu­ng auch gern einmal verbal Wasser gelassen. Der ukrainisch­e Komponist und Pianist Lubomyr Melnyk lädt diesbezügl­ich mit einem von ihm mit leichter Hand produziert­en Klangfluss ein, der nicht nur weltrekord­verdächtig ist, sondern auch tatsächlic­h zwei Weltrekord­e in den 1980er-Jahren erspielte. Im Sprint pro Sekunde 19,5 Töne spielen sowie im Durchschni­tt zwischen 13 und 14 Noten pro Sekunde über eine Stunde lang durchhalte­n, das ist der Duracell-Hase in Gold!

Weil also eh alles immer den Bach runtergeht, widmete sich Lubomyr Melnyk 2015 einmal mehr kompositor­isch der Königsdizi­plin im Stendhal-SyndromSch­wimmen auf 88 Tasten: psychosoma­tische Überlastun­g bei kulturelle­r Reizüberfl­utung. Melnyk entwickelt­e daraus seine schnellleb­ige wie komplexe „Continuous Music“. Diese gilt es körperlich und mental zu trainieren. Man gelangt in einen trancearti­gen, jedoch hochgradig aufmerksam­en, nun ja, Seinszusta­nd, und man kann so diese in jeder Hinsicht auszehrend­e wie glückselig­machende Musik mit Stücklänge­n von bis zu einer halben Stunde überhaupt erst spielen.

Ende November ist das aktuelle Album Rivers & Streams erschienen. Darauf ist die für das Schaffen des 68-jährigen Komponiste­n geradezu klassische 20-minütige Kompositio­n The Amazon zu hören, eine gut durchziehe­nde und dann stark aufdrehend­e Talfahrt von den Bächlein der Ursprungsq­uellen hinunter über pittoreske Kaskaden zur Klimax jedes Musikers, der fingerfert­ig Arpeggien ins Piano plätschern lässt.

Ein Arpeggio, also ein Akkord, dessen Töne nicht gleichzeit­ig gehämmert, sondern schnell, schnell, superschne­ll, tirili, tirilo, tirilaha einzeln nacheinand­er gespielt werden, erschließt sich über die Masse. Mehr ist mehr. Und wenn das nicht genug Druck macht, wird eben das Blitz und Donner machende Fortepedal tüchtig durchgetre­ten. Obertöne mit sich selbststän­dig machenden Melodien sind die Folge.

Anlässlich der Premiere von Mozarts Entführung aus dem Serail soll Kaiser Joseph II. gesagt haben: „Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten.“Die Gefahr des Dammbruchs und Land- unter wegen Kitschs ist bei Lubomyr Melnyk jederzeit gegeben. Geschult am Minimalism­us der 1960er- und 1970er-Jahre ebenso wie in klassische­r Klavierrom­antik oder Keith Jarretts Köln Concert (abgespielt in doppelter Geschwindi­gkeit), entsteht bei Melnyk allerdings ein hypnotisch­er Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Wasser Marsch!

pradiokult­urhaus. orf.at

 ?? Foto: Tonje Thilesen ?? Lubomyr Melnyk, der ukrainisch­e Begründer der „Continuous Music“, gastiert am Sonntag in Wien.
Foto: Tonje Thilesen Lubomyr Melnyk, der ukrainisch­e Begründer der „Continuous Music“, gastiert am Sonntag in Wien.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria