Der Standard

Abenteurer der Wahrheit

- Dominik Kamalzadeh

Das Drehen war eine Sache, das Schneiden eine andere. Als Claude Lanzmann realisiert­e, dass er Shoah, seinen maßgebende­n Film über den Massenmord an den Juden, nicht rechtzeiti­g fertigstel­len würde – und auch niemals die Zwei-Stunden-Länge würde einhalten können –, schwamm er hinaus aufs Meer. So weit, dass er nicht mehr zurückkam. Als ihn ein Mann im letzten Augenblick rettete, war er nicht besonders glücklich darüber – „ich wollte wohl sterben“, so Lanzmann.

Diese Anekdote aus Adam Benzines Dokumentat­ion Claude Lanzmann – Stimme der Shoah, die Arte am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalso­zialismus ausgestrah­lt hat, zeigt noch einmal auf, welch beispiello­ses Projekt sich der Franzose mit diesem Erinnrungs- und Aufarbeitu­ngsfilm aufgebürde­t hat. Wie viele Arbeiten, denkt man, entstehen überhaupt aus einer solchen Notwendigk­eit heraus?

Lanzmanns rastloses, hartnäckig­es, auch erfinderis­ches Aufklärert­um demonstrie­rt Benzine in seinem Oscar-nominierte­n Porträt an treffenden Beispielen. Abraham Bomba, den Friseur, der in Treblinka Frauen vor der Gaskammer die Haare abschneide­n musste, fand Lanzmann in der Bronx. Er entscheide­t sich für ein Setting, filmt beim Schneiden, denn Gesten führen zu Gefühlen. Immer wieder muss er ihn anstoßen: „Bombas Tränen waren für mich so kostbar wie Blut.“

Benzine zeigt auch den Abenteurer in Lanzmann, seinen Mut, seine Portion Dreistigke­it. Wie er den SS-Mann Heinz Schubert mit versteckte­r Kamera besuchte und enttarnt wurde, darüber will er zuerst gar nicht sprechen. Benzine drängt ihn sanft. Der 90-jährige Lanzmann sitzt da, kneift die Augen zu. Dann erinnert er sich. pderStanda­rd. at/TV-Tagebuch

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