Lesbos schafft sich neues Leben mit Flüchtlingen
Winterflaute und Hochsaison gibt es nicht mehr auf der Ägäis-Insel Lesbos. Der Ansturm der Flüchtlinge von der nahen türkischen Küste hat das Leben der Inselbewohner umgekrempelt. Nicht mehr Touristen, sondern Flüchtlinge halten die Wirtschaft am Laufen.
Skala Sikamnias ist ein winziges Fischerdorf, ein pittoreskes Hafenbecken mit bunt herausgeputzten Steinhäusern und einem langen Strand, den die Helfer die „sichere Landezone“nennen. Denn zum Schwimmen und In-der-SonneLiegen kommt hier niemand mehr. Skala Sikamnias an der Nordspitze von Lesbos ist das Eingangstor der Flüchtlinge. Der größte Exodus seit dem Zweiten Weltkrieg geht hier durch.
Vier Millionen warten noch auf der türkischen Seite, glaubt Apostolos, einer der Griechen auf der Insel, die sich mit Leib und Seele der Rettung der Bootsflüchtlinge verschrieben haben. Vier Jahre wird das noch so gehen, sagt er. Vielleicht auch länger.
Sicherheiten gibt es nicht auf Lesbos. Nur die eine: Der Strom der Flüchtlinge wird nicht abreißen. „Wir können nichts dagegen tun“, sagt Apostolos’ Freund und Chef, der Tavernenbesitzer Evangelis. „Wir sind hier, um sie zu schützen und ihnen zu helfen.“Beide Männer waren von Anfang an dabei. Die Schlauchboote sehen sie bei Tageslicht schon von ihrer Taverne aus kommen, einen Steinwurf entfernt vom Strand.
Diese Woche hat für sie ruhiger begonnen. Die griechische Küstenwache und Frontex, die Grenzschutzbehörde der EU, sind nun sehr viel aktiver und retten die Flüchtlinge bereits auf offener See aus den Schlauchbooten. 413 Menschen waren es am Dienstag allein auf einem Schiff der Küstenwache.
Szenen mit schwarzer Tinte
Apostolos war einer der Ersten, die im großen Stil Kleidung und Lebensmittel organisierten, als der Ansturm begann. 30, 35 Boote am Tag, weit mehr als tausend Menschen waren es dann im Ok- tober, dem Monat mit den bisher meisten Flüchtlingen in Skala Sikamnias. Der 40-Jährige lässt sich jetzt mit schwarzer Tinte Szenen von den immer wieder neuen Rettungen im Wasser auf die Arme tätowieren. Er hat zu viele tote Kinder gesehen, sagen seine Freunde.
Mit dem tragischen Tod von Aylan Kurdi, des dreijährigen syrischen Buben, der Anfang September ertrunken und an der türkischen Küste angespült worden war, wandte sich auch das Bild auf Lesbos. Dutzende von Hilfsorganisationen und Mitstreiter spontan gebildeter Initiativen kamen auf die Insel, vom amerikanischen Evangelistenverein Samaritan’s Purse bis zu den Anarchisten aus dem Athener Stadtteil Exarchia.
Auch Ai Weiwei, der chinesische Künstlerdissident, fehlt nicht. Vergangene Woche legte sich der schwergewichtige Mann für ein Foto auf einen Kiesstrand in Lesbos, das Gesicht mit den geschlossenen Augen dem Betrachter zugewandt, in der Pose, wie der kleine Aylan Kurdi gefunden worden war. 14.000 rote Schwimmwesten haben die Behörden dieser Tage an den Stränden aufgesammelt, meist unbrauchbare Stoffwesten, die Flüchtlinge in der Türkei vor ihrer gefährlichen Überfahrt kaufen und die sich mit Wasser vollsaugen, kentert einmal das Boot. Ai Weiwei braucht sie für ein Mahnmal in Berlin. „Lesbos ist nicht die Grenze“, sagt er, „die Grenze ist in unseren Köpfen“.
Die Durchgangsstation
Lesbos ist keine reiche Insel und eigentlich auch keines der ganz großen Touristenziele in Griechenland. Die Schornsteine der Olivenpressen rauchen in diesen Tagen überall auf der Insel, der drittgrößten in der Ägäis nach Kreta und Euböa. Jetzt, ein halbes Jahr nach dem Beginn des großen Flüchtlingsstroms und noch mitten im Winter, wird deutlich, welch ein ungewöhnlicher Ort Lesbos geworden ist. Jeden Tag werden an die 2000 Menschen – weiterhin vor allem Syrer und Afghanen – über die Insel in Lager gefahren, registriert und an einem der folgenden Abende auf die Fähre nach Piräus gesetzt. Es gibt Wegweiser auf Arabisch zu den Bushaltestellen, Imbissbuden vor den Lagern, Verkäufer der griechischen Mobilbetreiber, die an ihren Ständen SIM-Karten für zehn Euro das Stück anpreisen.
Cafés und Restaurants sind voll, Hotels ausgebucht, die Mietwägen verliehen über Wochen und Monate. Das NGO-Volk, die Flüchtlingshelfer der Uno, die Polizisten aus Europa, die für Frontex arbeiten, die Journalisten und natürlich die Flüchtlinge – sie alle wollen versorgt sein und geben Geld aus. Ein Ausgleich für die Touristen, die im Winter sowieso nicht kommen? „Es ist eigentlich viel besser“, sagt Anna Anastasiou, eine Mitarbeiterin in einem Reisebüro am Hafen von Mytilini, der Inselhauptstadt: „Alles ist offen, jeder arbeitet.“Letztes Jahr um die Zeit war sie nicht mehr sicher, ob sie ihren Job noch behalten würde. Jetzt verkauft sie jeden Tag Fährtickets an die Flüchtlinge. pLangfassung der Reportage auf
derStandard.at/Panorama