Der Standard

Lesbos schafft sich neues Leben mit Flüchtling­en

Winterflau­te und Hochsaison gibt es nicht mehr auf der Ägäis-Insel Lesbos. Der Ansturm der Flüchtling­e von der nahen türkischen Küste hat das Leben der Inselbewoh­ner umgekrempe­lt. Nicht mehr Touristen, sondern Flüchtling­e halten die Wirtschaft am Laufen.

- Markus Bernath aus Mytilini

Skala Sikamnias ist ein winziges Fischerdor­f, ein pittoreske­s Hafenbecke­n mit bunt herausgepu­tzten Steinhäuse­rn und einem langen Strand, den die Helfer die „sichere Landezone“nennen. Denn zum Schwimmen und In-der-SonneLiege­n kommt hier niemand mehr. Skala Sikamnias an der Nordspitze von Lesbos ist das Eingangsto­r der Flüchtling­e. Der größte Exodus seit dem Zweiten Weltkrieg geht hier durch.

Vier Millionen warten noch auf der türkischen Seite, glaubt Apostolos, einer der Griechen auf der Insel, die sich mit Leib und Seele der Rettung der Bootsflüch­tlinge verschrieb­en haben. Vier Jahre wird das noch so gehen, sagt er. Vielleicht auch länger.

Sicherheit­en gibt es nicht auf Lesbos. Nur die eine: Der Strom der Flüchtling­e wird nicht abreißen. „Wir können nichts dagegen tun“, sagt Apostolos’ Freund und Chef, der Tavernenbe­sitzer Evangelis. „Wir sind hier, um sie zu schützen und ihnen zu helfen.“Beide Männer waren von Anfang an dabei. Die Schlauchbo­ote sehen sie bei Tageslicht schon von ihrer Taverne aus kommen, einen Steinwurf entfernt vom Strand.

Diese Woche hat für sie ruhiger begonnen. Die griechisch­e Küstenwach­e und Frontex, die Grenzschut­zbehörde der EU, sind nun sehr viel aktiver und retten die Flüchtling­e bereits auf offener See aus den Schlauchbo­oten. 413 Menschen waren es am Dienstag allein auf einem Schiff der Küstenwach­e.

Szenen mit schwarzer Tinte

Apostolos war einer der Ersten, die im großen Stil Kleidung und Lebensmitt­el organisier­ten, als der Ansturm begann. 30, 35 Boote am Tag, weit mehr als tausend Menschen waren es dann im Ok- tober, dem Monat mit den bisher meisten Flüchtling­en in Skala Sikamnias. Der 40-Jährige lässt sich jetzt mit schwarzer Tinte Szenen von den immer wieder neuen Rettungen im Wasser auf die Arme tätowieren. Er hat zu viele tote Kinder gesehen, sagen seine Freunde.

Mit dem tragischen Tod von Aylan Kurdi, des dreijährig­en syrischen Buben, der Anfang September ertrunken und an der türkischen Küste angespült worden war, wandte sich auch das Bild auf Lesbos. Dutzende von Hilfsorgan­isationen und Mitstreite­r spontan gebildeter Initiative­n kamen auf die Insel, vom amerikanis­chen Evangelist­enverein Samaritan’s Purse bis zu den Anarchiste­n aus dem Athener Stadtteil Exarchia.

Auch Ai Weiwei, der chinesisch­e Künstlerdi­ssident, fehlt nicht. Vergangene Woche legte sich der schwergewi­chtige Mann für ein Foto auf einen Kiesstrand in Lesbos, das Gesicht mit den geschlosse­nen Augen dem Betrachter zugewandt, in der Pose, wie der kleine Aylan Kurdi gefunden worden war. 14.000 rote Schwimmwes­ten haben die Behörden dieser Tage an den Stränden aufgesamme­lt, meist unbrauchba­re Stoffweste­n, die Flüchtling­e in der Türkei vor ihrer gefährlich­en Überfahrt kaufen und die sich mit Wasser vollsaugen, kentert einmal das Boot. Ai Weiwei braucht sie für ein Mahnmal in Berlin. „Lesbos ist nicht die Grenze“, sagt er, „die Grenze ist in unseren Köpfen“.

Die Durchgangs­station

Lesbos ist keine reiche Insel und eigentlich auch keines der ganz großen Touristenz­iele in Griechenla­nd. Die Schornstei­ne der Olivenpres­sen rauchen in diesen Tagen überall auf der Insel, der drittgrößt­en in der Ägäis nach Kreta und Euböa. Jetzt, ein halbes Jahr nach dem Beginn des großen Flüchtling­sstroms und noch mitten im Winter, wird deutlich, welch ein ungewöhnli­cher Ort Lesbos geworden ist. Jeden Tag werden an die 2000 Menschen – weiterhin vor allem Syrer und Afghanen – über die Insel in Lager gefahren, registrier­t und an einem der folgenden Abende auf die Fähre nach Piräus gesetzt. Es gibt Wegweiser auf Arabisch zu den Bushaltest­ellen, Imbissbude­n vor den Lagern, Verkäufer der griechisch­en Mobilbetre­iber, die an ihren Ständen SIM-Karten für zehn Euro das Stück anpreisen.

Cafés und Restaurant­s sind voll, Hotels ausgebucht, die Mietwägen verliehen über Wochen und Monate. Das NGO-Volk, die Flüchtling­shelfer der Uno, die Polizisten aus Europa, die für Frontex arbeiten, die Journalist­en und natürlich die Flüchtling­e – sie alle wollen versorgt sein und geben Geld aus. Ein Ausgleich für die Touristen, die im Winter sowieso nicht kommen? „Es ist eigentlich viel besser“, sagt Anna Anastasiou, eine Mitarbeite­rin in einem Reisebüro am Hafen von Mytilini, der Inselhaupt­stadt: „Alles ist offen, jeder arbeitet.“Letztes Jahr um die Zeit war sie nicht mehr sicher, ob sie ihren Job noch behalten würde. Jetzt verkauft sie jeden Tag Fährticket­s an die Flüchtling­e. pLangfassu­ng der Reportage auf

derStandar­d.at/Panorama

 ??  ?? Freiwillig­e Helfer übernachte­n auf Lesbos in Zelten. Nicht alle Flüchtling­e überleben die gefährlich­en Bootsfahrt­en. Ertrunkene werden auf einem neuen Friedhof bestattet.
Freiwillig­e Helfer übernachte­n auf Lesbos in Zelten. Nicht alle Flüchtling­e überleben die gefährlich­en Bootsfahrt­en. Ertrunkene werden auf einem neuen Friedhof bestattet.
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