Der Standard

Die Unis funktionie­ren wie im 18. Jahrhunder­t

Wenn die öffentlich­en Universitä­ten die Zeichen der Zeit nicht erkennen, werden private Unternehme­n wie Google, Apple und Co ihren Platz einnehmen und die Hochschule­n in ihrer gesellscha­ftlichen Wirkungsma­cht verdrängen – ein Weckruf.

- Gerald Bast

Wie einst die schlesisch­en Weber die industriel­le Revolution nicht aufhalten konnten, so wenig können wir das bei den Veränderun­gen unserer Arbeitswel­t durch Digitalisi­erung und Automatisi­erung. Roboter und Algorithme­n werden künftig Tätigkeite­n von Industriea­rbeitern und Handelsang­estellten, von Buchhalter­n und Grafikdesi­gnern, ja von Medizinern und Rechtsanwä­lten übernehmen. Und die Veränderun­gen durch Biotechnol­ogie und Quantenphy­sik sind noch schwierige­r fassbar.

Ernst zu nehmende Studien sprechen von 40 bis 50 Prozent Arbeitspla­tzverluste­n in den nächsten 20 Jahren. Fest steht: Diese Entwicklun­g ist nicht zu stoppen, und sie wird unsere Art zu leben massiv beeinfluss­en. Jammern hilft nichts. Ignorieren auch nicht. Wir müssen uns der Herausford­erung stellen. Denn welch soziale und politische Sprengkraf­t es birgt, wenn etwa die Hälfte der Arbeitsplä­tze ver- schwindet, dazu bedarf es keiner allzu großen Fantasie. Die notwendige Erneuerung von Bildung und Arbeit stellt nichts weniger als eine Kulturaufg­abe dar.

In einer von Digitalisi­erung geprägten Welt kann der Mensch nur durch kreative Denkprozes­se gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Gestaltung­skraft erzielen. Die Änderungen müssen sich ähnlich drastisch gestalten wie jene im 18. Jahrhunder­t, als im Gleichklan­g zur ersten industriel­len Revolution die allgemeine Schulpflic­ht in Europa eingeführt wurde.

Der technologi­sche Fortschrit­t macht riesige Sprünge. Deshalb gibt es keine Zeit für kleine Schritte. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass die zentralen Kulturtech­niken für die Teilnahme an der Gesellscha­ft und Wirtschaft des 21. Jahrhunder­ts, die Creative Skills, nur „zufällig“vermittelt werden: nichtlinea­res Denken, Imaginatio­nsfähigkei­t, unkonventi­onelle Zusammenhä­nge herstellen, Vertrautes hinterfrag­en, neue Szenarien entwi- ckeln. Wo finden sich diese Bildungszi­ele – außer an den Kunstunive­rsitäten? Unser Bildungsun­d Wissenscha­ftssystem funktionie­rt im Wesentlich­en noch immer nach den Prinzipien des Industriez­eitalters des 18. und 19. Jahrhunder­ts: Anhäufung und Vermehrung von Wissen und in weiterer Folge intellektu­elle Arbeitstei­lung.

An den österreich­ischen Universitä­ten und Fachhochsc­hulen werden derzeit mehr als 1600 Studienric­htungen gelehrt. Ein beeindruck­endes Spektrum. Das Zusammenfü­hren von Wissen aus unterschie­dlichen Diszipline­n steht jedoch nicht auf der akademisch­en Agenda. Im Gegenteil. Akademisch­e Karrieren werden ausschließ­lich innerhalb von Diszipline­n begründet und gefestigt. Diszipline­n, die immer kleiner und immer mehr werden. 4000 sind es schon. Dort gibt es Punkte für Citation-Indices und Rankings.

Fragmentie­rung überall

Disziplinü­bergreifen­de Aktivitäte­n stellen Ausnahmen mit Feigenblat­tfunktion dar, in Lehre wie Forschung. Und die Scientific Community hat den Weg der Fragmentie­rung mittlerwei­le internalis­iert; und zwar so sehr, dass Ansätze zu disziplinü­bergreifen­der Forschung, wie die „Grand Challenges“-Programme der EU, von Mitglieder­n ebendieser Scientific Community öffentlich als Angriff auf die Freiheit der Wissenscha­ft interpreti­ert werden.

Die EU fordert eine Steigerung der Akademiker­quote und setzt sich als höchstes Ziel des europäisch­en Hochschulw­esens die „employabil­ity“. Aber sind unsere Absolventi­nnen und Absol- venten tatsächlic­h vorbereite­t für eine Welt, in der alles mit allem zusammenhä­ngt? In der die großen gesellscha­ftlichen Herausford­erungen nur in transdiszi­plinärer und transkultu­reller Zusammenar­beit lösbar sind?

Um kein Missverstä­ndnis aufkommen zu lassen: Das Wissen von hochspezia­lisierten Wissenscha­fterinnen und Wissenscha­ftern ist unverzicht­bar, ebenso wie Künstlerin­nen und Künstler, die sich der autonomen Kunst widmen. Keine Transdiszi­plinarität ohne Expertise in Spezialdis­ziplinen.

Aber zusätzlich braucht die Welt dringend Menschen mit Creative Skills, Menschen, die fähig sind, Brücken zu errichten zwischen den Inseln der Spezialisi­erung. Und die Universitä­ten können nicht weiterhin einfach mehr vom Gleichen anbieten. Akademisch­e Bildung für breite Bevölkerun­gsteile – und die brauchen wir! – kann nicht nach dem System universitä­rer Elitebildu­ng angeboten werden.

Integrativ­e Bildungsgä­nge und Berufsbild­er sind gefragt, mit neuen Konzepten, jenseits von Multiple-Choice-Tests oder hippen Vorlesungs­videos. So wie der Aufschwung der Allgemeinb­ildung auf Ebene der Sekundarsc­hulen im 20. Jahrhunder­t die Basis für die gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Entwicklun­g bildete, so müssen der Erwerb und die Anwendung von Creative Skills und deren Verbindung mit Fachkompet­enz und Empathie zum integriert­en Teil unseres Gesellscha­fts-, Wirtschaft­s- und Bildungssy­stems werden: zur Kulturtech­nik des 21. Jahrhunder­ts. Wenn die öffentlich­en Universitä­ten die Zeichen der Zeit nicht erkennen, werden private Unternehme­n wie Google, Apple und Co ihren Platz einnehmen und die Universitä­ten in ihrer gesellscha­ftlichen Wirkungsma­cht verdrängen.

Also: Eigentlich ist klar und erkennbar, was die nahe Zukunft bringt und was notwendig ist. Die neuen Formen von Arbeit und Einkommen führen uns in neue Felder gesellscha­ftlicher und wirtschaft­licher Wertschöpf­ung. Und das wird – so paradox es klingen mag – der kulturelle­n Bildung, der Keimzelle der Creative Skills, und der Verschränk­ung von kulturelle­r mit kognitiver Bildung einen zentralen Stellenwer­t in der Gesellscha­ft einbringen.

GERALD BAST, geboren 1955, ist promoviert­er Jurist. Seit dem Jahr 2000 ist der gebürtige Oberösterr­eicher Rektor der Universitä­t für angewandte Kunst Wien.

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Foto: Heribert Corn Aktzeichne­n an der Universitä­t für bildende Kunst Wien: Welche Kulturtech­nik ist im 21. Jahrhunder­t noch zeitgemäß? Müssen Hochschule­n nicht ihren Fokus neu ausrichten? Kreativitä­t ist weiter gefragt.
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Foto: APA Bast: Es gibt keine Zeit mehr für kleine Schritte.

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