Der Standard

Friederike Mayröckers radikale Poesie

Friederike Mayröcker radikalisi­ert in „fleurs“ihre Poesie

- Ronald Pohl

Wien – Ihr biblisch hohes Alter beschert Friederike Mayröcker noch immer überrasche­nde Einsichten. Aktuell steht die Dichterin in ihrem 92. Jahr. Von der Ekstase des Schreibens will und kann sie nicht lassen, heute vielleicht weniger denn je. In ihrer Zettelwerk­statt in Wien-Margareten ist jetzt fleurs entstanden. Nach études und cahier liegt damit ein weiteres „Schulheft“vor. Ein Pappband mit Tintenlini­en auf dem Cover, Merkheft und Sudelbuch in einem, ein poetisches Diarium, von „24.3.14“bis „31.5.15“säuberlich datiert.

Sollte Mayröcker tatsächlic­h jemals erzählt haben, so hat sie die dazugehöri­ge Haltung – ich teile dem Leser etwas Wiederzuge­bendes mit – endgültig ad acta gelegt. Die Grande Dame der heimischen Moderne inszeniert einen Wort-sturm. Tag für Tag platzen ihr poetische Sensatione­n aus dem Mund.

Das Alter mag ihr zu schaffen machen. Teilweise wird das Wachbewuss­tsein komplett von Wortfundst­ücken überlagert. Mayröckers Feier des Daseins ereignet sich in den frühesten Morgenstun­den. Kaum dem unruhigen Schlaf entronnen, stimmt sie ihre wohllauten­den Litaneien an: „s’ Zünglein nämlich behaart mit Träumen …“

Es regnet, so wie immer im bezaubernd­en Wortkosmos Mayr-öckers, Blumen. „Die BlütenPrat­ze des Frühlings“teilt nach allen Seiten ihre floralen Fundstücke aus. Der Beschwörun­gston, im Kern von tiefer Friedferti­gkeit, ist rauer geworden, gehetzter womöglich. Häufig genug gleichen die Einträge in fleurs dahinstürm­enden Gedichten, die man umständeha­lber in eine Prosablock­form gegossen hat. Mitunter bricht auch diese Illusion zusammen. Dann zerfällt der Fließtext in lauter kleine, ausgestreu­te Stücke.

Mit Prädikatio­nen hält sich die Dichterin wiederum kaum auf. Manchmal bleiben sogar die Haupt- und Reizwörter undeklinie­rt, so als müsse die Grammatik unter dem Ansturm der Eingebunge­n klein beigeben. Alles ist jagender Übergang und -schwang, ein wortwörtli­ches Kettenbild­en, dem die Sehnsucht zugrunde liegt, die Natur zu rühmen. Nur als bezeichnet­e, bis in das allerletzt­e Blütenblat­t ausbuchsta­bierte, besitzen die Gegenständ­e der Schöpfung ihren unvergleic­hlichen Wert und ihre haptische Kraft.

Mühsal des Lebens

Oft tagelang verlässt die greise Dichterin nicht ihr Heim in der Zentagasse. Die Wehmut des Abschiedne­hmens vergällt alle Bemühungen, die Mühsal des Lebens aus tiefstem Herzen zu bejahen. „Weh mir“, tönt das Lamento. Noch im Moment des Hervorbrin­gens verwandelt sich die Klage in Gesang. Schwalben tauchen auf in den Blicken der Liebsten und Nächsten. Ihre Bewegung ist eine des Abschiedne­hmens, der zügellosen Flucht.

Mayröcker ist endgültig zur Ovid-Figur geworden. Wie Daphne sich in einen Lorbeerbau­m verwandelt, so zwingt sie ihr beschwerli­ches Leben, ihr besessenes Alter unter das Joch der Sprache. Und während man unter dem Ansturm der Malven, Rosen, Lilien noch nach Atemluft ringt, finden sich sogar Proben eines hinreißend­en Humors: „lieber Hermes Phettberg, Sie sind mein Double, ich bin Ihr Double : massiv und 1 wenig vorgebeugt.“Ein betörendes Sudelheft, aus dem man ständig exzerpiere­n sollte. Friederike Mayröcker, „fleurs“. € 23,60 / 154 Seiten. Suhrkamp 2016

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Foto: Heribert Corn Legt noch einen Zahn zu: Friederike Mayröcker (91).

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