Der Standard

„The Lobster“von Yorgos Lanthimos ist ein außergewöh­nlicher Film über die großen Fragen des Lebens, auf die es keine Antworten gibt – weshalb Colin Farrell auch kein Tier werden, sondern lieber Mensch bleiben will.

- Michael Pekler

Wien – Was haben die Liebe und das Leben gemeinsam? Und was passiert mit jenen, deren Gefühle verschütte­t oder verletzt sind? Vielleicht tauchen sie unter und suchen die Einsamkeit. Möglicherw­eise versuchen sie mit letzter Kraft den Anschluss an die Welt nicht zu verlieren. Sicher aber bleibt ihnen dafür nicht allzu viel Zeit. Denn allein sein kann man bald einmal, doch einsam zu sein, das schafft kaum jemand – vor allem dann nicht, wenn die Liebe zum Gebot wird.

Dann kann ein entlegenes Kurhotel zum Gefängnis für jene werden, auf die eine einzige Aufgabe wartet: eine Partnerin oder einen Partner fürs Leben zu finden – und zum Überleben. Denn wem es nicht gelingt, sich rechtzeiti­g zu binden, den erwartet nicht die Verbannung, sondern die Verwandlun­g, nicht in jemand anderen, sondern in etwas anderes. Gibt es einen größeren Unterschie­d zwischen Mensch und Tier als die Fähigkeit zu lieben?

David (Colin Farrell) hat eine exzellente Wahl getroffen, wie ihm die Hotelchefi­n erklärt: Ein Hummer hat eine hohe Lebens- erwartung und ist bis ins hohe Alter sexuell aktiv. Wenn David also schon kein Mensch bleiben darf, so will er wenigstens ein Tier sein, das menschlich­en Bedürfniss­en entspricht. Und bis ihm dieses Schicksal dräut, darf er noch genau 45-mal als Mensch aufwachen. Jeder Tag zählt, lautet das Motto der Lebenslust­igen, doch hier ist es ein Countdown. The Lobster ist eine tieftrauri­ge Farce.

Yorgos Lanthimos, mit Arbeiten wie Dogtooth und Alps einer der wichtigste­n Vertreter des neuen griechisch­en Kinos, ist kein Regisseur, sondern ein Filmemache­r. Das sieht man diesem dystopisch­en Szenario, das Lanthimos auch als Autor seines ersten englischsp­rachigen Films entworfen hat, von der ersten bis zur letzten Minute an. Denn obwohl die Traurigkei­t dieser menschenve­rachtenden Gesellscha­ftsordnung natürlich ein böser Witz ist, nimmt dieser Film seine Figuren zugleich todernst und erlaubt es uns erst dadurch, sie wieder als Menschen wahrzunehm­en.

Heimliche Botschafte­n

The Lobster ist ein Film in zwei Teilen, die man als Prolog und Epilog beschreibe­n könnte. Lanthimos verzichtet nämlich ganz bewusst auf eine herkömmlic­he Entwicklun­g seiner Charaktere – zu David gesellen sich alsbald namenlose Leidensgen­ossen wie John C. Reilly als „Lisping Man“und Ben Whishow als „Limping Man“–, sondern vollzieht einen radikalen Bruch, der mit einem Schauplatz­wechsel und Davids erwachende­r Willensstä­rke einhergeht. Gibt es einen Ausbruch aus einem System der Unterdrück­ung? Selbstvers­tändlich. Doch erwartet einen dann die Freiheit? Nicht unbedingt. Denn die Freiheit, die man meint, ist nicht immer jene, die das Herz erfüllt.

Das Leben besteht aus Zwängen, und zu den schlimmste­n gehört jener, glücklich sein zu müssen. Seine möglichen Lesarten, buchstabie­rt The Lobster jedoch nicht aus, etwa dass die Frauen – so Rachel Weisz als „Short Sighted Woman“– mehr Widerstand­sgeist aufbieten als die Männer. Oder wie Gesten der Zuneigung, der Zuwendung gar, als heimliche Botschafte­n funktionie­ren. Lautlos und unbemerkt.

In einer großartige­n Szene geben die Direktorin und ihr Ehemann im Ballsaal Something’s Gotten Hold of My Heart zum Besten, um die Männer in ihren dunklen Anzügen und die Frauen in ihren gleich gemusterte­n Kleidern tanzend zueinander finden zu lassen. Doch es ist nur eine andere Jagd als jene, zu der sich die Gäste später versammeln, um das eigene Menschenle­ben zu verlängern.

Wenn man sich nach diesem Film die Frage stellt, in welches Tier man sich denn gerne selbst verwandeln lassen würde, sollte man sich die Antwort gut überlegen. Denn vielleicht genügt es ja schon, die Welt – und dann gerne auch die Liebe und das Leben – mitunter einfach mit anderen Augen zu sehen. Jetzt im Kino

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