Der Standard

Europäisch­e Integratio­n: Die nächste Phase startet

Die Euro- und die Schengenkr­ise führen zu neuen politische­n Tauschverh­ältnissen zwischen Zentrum und Peripherie der EU. Und beide Krisen prägen die Art und Weise, in der die weitere Integratio­n der Union vonstatten­gehen wird.

- Georg Vobruba

Wohin führen Euro- und Schengenkr­ise die Europäisch­e Integratio­n? Um eine plausible Antwort zu finden, empfiehlt es sich, das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie der EU als politische­s Tauschverh­ältnis zu verstehen. Und zwar so: Die Peripherie verpflicht­et sich zu ökonomisch­er und politische­r Modernisie­rung und verspricht, in ihrer jeweiligen Region als Stabilität­sfaktor zu wirken. Das bedeutete immer schon, Kontroll-Interessen des EU-Zentrums wahrzunehm­en: Bekämpfung grenzübers­chreitende­r Kriminalit­ät, Kontrolle von Migration. Das Zentrum der EU bietet dafür administra­tive und finanziell­e Unterstütz­ung bei der politische­n und ökonomisch­en Modernisie­rung, schrittwei­se mehr Personenmo­bilität sowie längerfris­tig die Teilhabe am EU-Wohlstand.

Durch die gemeinsame Währung und durch die Aufhebung von Grenzkontr­ollen wurden die politische­n Tauschverh­ältnisse zwischen Zentrum und Peripherie erweitert und wechselsei­tige Abhängigke­iten verstärkt. Durch den Währungsra­um wurde der Zwang zu ökonomisch­er und politische­r Modernisie­rung intensivie­rt. Durch den Schengenra­um stiegen die Anforderun­gen des Zentrums an die nationalen Grenzpolit­iken der Außenmitgl­ieder der EU. Die Peripherie erhielt dafür Zugang zu billigem Kredit und die Aufhebung der Kontrollen an den Binnengren­zen. Dies funktionie­rte nur eine Zeit lang. Die Phase der Stabilität des Euro- und des Schengenra­umes wurde durch zwei externe Ereignisse beendet. Der Euroraum geriet durch die Weltfinanz­krise und das sprunghaft steigende Risikobewu­sstsein internatio­naler Gläubiger unter Druck. Die Peripherie­länder wurden vom Finanzmark­t abgeschnit­ten, die Refinanzie­rung privater und öffentlich­er Schulden wurde unmöglich.

Den Schengenra­um erschütter­ten die Folgen des arabischen Frühlings. Zum einen gingen der EU die alten autoritäre­n Regime als Partner bei der Migrations­abwehr verloren. Zum anderen erzeugten die Konflikte, die dem arabischen Frühling folgten, Flüchtling­sströme in bis dahin unvorstell­barem Ausmaß.

Die unmittelba­re Folge beider Krisen für die EU war, dass die politische­n Tauschverh­ältnisse zwischen Zentrum und Peripherie der EU zusammenbr­achen. Was passiert jetzt? Es geht um neue politische Tauschverh­ältnisse zwischen Zentrum und Peripherie. Deren Gestaltung hängt davon ab, wie Zentrum und Peripherie in den beiden Krisen aufeinande­r angewiesen sind. Diesbezügl­ich gibt es zwischen Eurokrise und Schengenkr­ise entscheide­nde Unterschie­de:

Das Eurokrisen­management richtet sich darauf, Gläubigerv­ertrauen als Voraussetz­ung für das Funktionie­ren der gemeinsame­n Währung wieder herzustell­en. Das setzt voraus, dass Gläubigeri­nteressen bestmöglic­h befriedigt werden. Die von den internatio­nalen Kapitalmär­kten abgeschnit­tenen Eurokrisen­länder geraten durch die Krise in verstärkte Abhängigke­it vom Zentrum. Das zeigt sich an den Auflagen, die mit finanziell­en „Hilfspaket­en“verbundene­n sind, um das Gläubigerv­ertrauen zu fördern.

Allerdings bestehen auch Abhängigke­iten des Zentrums von der Peripherie. Dessen Scheitern wird als Gefahr für die gesamte gemeinsame Währung interpreti­ert. Dafür steht die Metapher der „Ansteckung“, die in den ersten Jahren der Eurokrise die handlungsl­eitenden Interpreta­tionen der politische­n Eliten dominierte.

Aufgrund der wechselsei­tigen Abhängigke­it ist das Machtgefäl­le zwischen Zentrum und Peripherie darum erst einmal relativ flach, doch wird es mit der Dauer der Eurokrise immer steiler – und zwar zum Nachteil der Peripherie. Denn das Zentrum kann seine Ab- hängigkeit schrittwei­se abbauen, die Peripherie dagegen hat keine analogen Möglichkei­ten und rutschte immer tiefer ins Defizit. Ergebnis ist die zunehmende Dominanz des wettbewerb­sstarken wohlhabend­en Kerns der EU. Die Eurokrise wird von der Interpreta­tion begleitet, dass die Krisenbewä­ltigung zwar erst für manche soziale Härten, dann aber für alle Erträge bringt, also langfristi­g ein Positivsum­menspiel ist.

Die Schengenkr­ise legt Abhängigke­iten offen, die viel einfacher und leichter einsehbar sind. Entscheide­nd für die Größenordn­ung des Flüchtling­sproblems ist die Durchlässi­gkeit der Schengenau­ßengrenze. Sobald Flüchtling­e diese Grenze überschrit­ten haben, ist das Flüchtling­sproblem ein Verteilung­sproblem. Dieses trifft vor allem das Zentrum der EU, zum einen weil das Zentrum vorrangige­s Ziel der Flüchtling­sströme ist, und zum anderen, weil Durchwinke­n die wichtigste Strategie der Transitlän­der im Konflikt über die Verteilung der Lasten ist. Dass die Zuwanderun­g junger Leute längerfris­tig positiv auf Arbeitsmar­kt und die Alterssich­erungssyst­eme wirkt, mag zutreffen. Aber hinter diesen Interpreta­tionen stehen keine Interessen, die sie kurzfristi­g durchsetze­n können. In der Schengenkr­ise dominieren darum Nullsummen­spiel-Interpreta­tionen: Mehr Flüchtling­e im anderen Land bedeutet weniger Flüchtling­e im eigenen; daher die Versuchung zu nationalst­aatlichen Alleingäng­en, Obergrenze­n- und Grenzschli­eßungsreth­orik. Welche Folgen hat das für die geopolitis­che Struktur der EU? In der Schengenkr­ise manifestie­rt sich eine starke Abhängigke­it des Zentrums von der Peripherie. Das Zentrum muss drei Problemfel­der bearbeiten. Erstens muss die Abhängigke­it von Nachbarlän­dern der EU in neu balanciert­e politische Tauschverh­ältnisse überführt werden. Dass dies mit hohen materielle­n und immateriel­len Kosten verbunden ist, zeigt das Verhältnis zur Türkei. Zweitens müssen Möglichkei­ten und Bereitscha­ft der EU-Außengrenz­länder gestärkt werden, die gemeinsame Außengrenz­e zu überwachen. Das kostet Geld und erfordert von den Außengrenz­ländern den Verzicht auf einen wichtigen Aspekt ihrer Souveränit­ät. Und drittens hängt das Zentrum von der Bereitscha­ft anderer EU-Mitglieder ab, sich an den Lasten der Schengenkr­ise zu beteiligen. In manchen Ländern geht die Unwilligke­it dazu bis an die Schwelle der Selbstexkl­usion aus der EU.

In der Eurokrise befindet sich das Zentrum in der Position, eine Politik der Stärkung des Gläubigerv­ertrauens als Funktionse­rfordernis des Euro durchzuset­zen. Darum sind die sozialen Kosten der Eurokrisen­politik relativ leicht auf die Peripherie überwälzba­r. In der Schengenkr­ise dagegen hängt das Zentrum von der Peripherie innerhalb und außerhalb der EU ab. Es geht unmittelba­r um Interessen, um für alle sichtbare Probleme. Daraus folgt, dass Entscheidu­ngen des Schengenkr­isenmanage­ments viel direkter auf die Akzeptanz von Mehrheiten im Zentrum angewiesen ist. Darum ist Zentrum daraus angewiesen, dass die Peripherie bereit ist, neue politische Tauschverh­ältnisse einzugehen. Sie werden für das Zentrum deutlich kostspieli­ger sein. Die beiden Krisen prägen die nächste Phase der Europäisch­en Integratio­n. Die Eurokrise führt zum Integratio­nsschub im Zentrum: ESM, Stabilität­spakt, Bankenunio­n. Daraus ergeben sich stärkere Abstufunge­n gegenüber den Mitgliedsl­ändern außerhalb des Währungsra­umes. Die Schengenkr­ise erzwingt politische Zugeständn­isse gegenüber der Peripherie, verhindert das Ausscheide­n einzelner peripherer EU-Mitglieder, da man sie als Puffer benötigt, und führt zu Versuchen, den Einflussbe­reich der EU in ihrer weiteren, äußeren Peripherie auszudehne­n.

GEORG VOBRUBA (Jg. 1948) ist Professor für Soziologie an der Uni Leipzig.

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O ag m I : to Fo Wenn es um Schengen und die Flüchtling­sströme geht, ist das europäisch­e Zentrum von der Peripherie abhängig. Und das ist kostspieli­g.
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Foto: ESA Georg Vobruba: Schengenkr­ise als Nullsum menspiel.

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