Der Standard

Österreich­s Lebenslüge lebt weiter

Bei der Auseinande­rsetzung mit der NS-Zeit herrscht noch immer Nachholbed­arf

- Alexandra Föderl-Schmid

Was nicht drinsteckt, kommt auch nicht zum Vorschein, heißt es im Volksmund. Was alles rund um die Einstellun­g eines Verfahrens gegen die Zeitschrif­t Aula zum Vorschein kam, wirft kein gutes Licht auf die Geschichts­aufarbeitu­ng in Österreich. Dass 2016 in einem der FPÖ nahestehen­den Blatt aus dem KZ Mauthausen Befreite als „Massenmörd­er“, „Landplage“und „Kriminelle“bezeichnet werden dürfen, ist an sich schier unglaublic­h. Aber dass all das noch dazu ohne Konsequenz­en für den Autor und die Entscheidu­ngsträger in der Justiz bleibt, untergräbt den Glauben an den Rechtsstaa­t.

Dass die Oberstaats­anwaltscha­ft Graz „disziplina­rrechtlich nichts unternehme­n“will und nur „den Wunsch nach mehr Sensibilit­ät geäußert“hat, wirkt wie eine Maßregelun­g nach dem Motto: Passt halt das nächste Mal besser auf! Und dass ein 81-jähriger Rechtsschu­tzbeauftra­gter zur Begründung nicht juristisch argumentie­rt, sondern auf seine Kindheitse­rfahrungen in der Nähe des KZ Mauthausen verweist, ist bemerkensw­ert. Noch dazu verfügt er nicht über neueren Kenntnisst­and in der Zeitgeschi­chte. All das wirkt wie eine Bestätigun­g einer Aussage des Justizmini­sters: Wolfgang Brandstett­er attestiert­e der österreich­ischen Justiz erst kürzlich Mängel „in der Auseinande­rsetzung mit ihrer Rolle im Nationalso­zialismus“.

Neben einer Reihe von Strafanträ­gen und Verurteilu­ngen nach dem NSVerbotsg­esetz gab es zwei Vorfälle in jüngster Zeit, die die Frage aufwerfen, ob die Justiz auf einem Auge blind ist: ein Freispruch für den Verfasser des NVP-Parteiprog­ramms trotz der wörtlichen Übernahme eines SS-Textes. Einem türkischen Friseur, der sich mit einem fiktiven Hitler-Zitat zum Holocaust gerühmt hatte, wurde eine „bloße Unmutsäuße­rung gegen Israel“zugebillig­t. ber nicht nur in Österreich braucht die Justiz lange, in manchen Fällen allzu lange. Vergangene Woche stand in Detmold ein 94-jähriger Wachmann des KZAuschwit­z vor Gericht, dem Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen vorgeworfe­n wird. Dass sich erst jetzt Wachleute aus Konzentrat­ionslagern vor Gericht verantwort­en müssen, geht auf den Demjanjuk-Prozess aus dem Jahr 2011 zurück. Bis dahin hielten deut-

Asche Gerichte die reine Anwesenhei­t eines Wachmannes im KZ noch nicht für ausreichen­d, um einen Prozess zu beginnen. Aber inzwischen leben nur noch wenige Täter – und Opfer.

Auch wenn in den vergangene­n 71 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs viel an Aufarbeitu­ng passiert ist und im Schulunter­richt Besuche in ehemaligen Konzentrat­ionslagern wie Mauthausen dazugehöre­n, ist Antisemiti­smus noch immer weit verbreitet, wie Studien zeigen. Der kollektive Opfermytho­s hat dazu beigetrage­n, dass sich Österreich­er nicht allzu sehr mit der NS-Vergangenh­eit beschäftig­en mussten. Wie der Schriftste­ller Robert Menasse feststellt­e, trug auch dazu bei, dass Österreich und Deutschlan­d nach 1945 die Demokratie geschenkt wurde. Sie musste nicht erkämpft werden.

Vor dreißig Jahren, anlässlich der Waldheim-Affäre, schrieb der Sozialpsyc­hologe Erwin Ringel über die Österreich­er: „Deren Vergangenh­eitsbewält­igung heißt seit langem Verleumdun­g und Vergessen der eigenen Beteiligun­g. Sie wollen Opfer gewesen sein, keinesfall­s Täter.“Diese Lebenslüge lebt weiter – auch im Jahr 2016.

Newspapers in German

Newspapers from Austria