Verknüpfen und Unverknüpftlassen
Über das Entziffern der Welt in Werken der Kunst: Kommenden Freitag wird im Burgtheater aus Peter Handkes Textsammlung „Tage und Werke“gelesen.
Tempo ab, sondern auch eine Stille in uns und um uns herum.“
Wer diese Stille in sich und um sich herum findet, begegnet bei Schutting auch einer syntaktischen Strategie, die in Gedichten äußerst selten vorkommt; ein ganz besonders gelungenes Gedicht des jüngsten Bandes Der Schwan trägt sie als Titel: „Konjunktive“. Angewandt hat Schutting die Konjunktive schon immer, und einmal sogar ausgetestet, ob ihr Duktus ein fünf Seiten langes Gedicht tragen kann – Antonius und Cleopatra im Band Dem Erinnern entrissen zeigt, dass das wunderbar funktioniert. (Vielleicht helfen da auch die Kleinbuchstaben, mit denen Schutting konsequent und ausnahmslos jeden seiner Sätze beginnen lässt – das mildert den Spalt zwischen den Sätzen, relativiert den Neuanfang und stärkt den Zusammenhang des Gesamttextes.)
In Konjunktiven lässt Schutting seine Figuren in Dialog miteinander treten und tritt das Gedicht mit ihnen in Dialog. In vielen Gedichten formuliert Schutting Fragen und Wünsche im Konjunktiv oder entwirft alternative Bildwelten. Die Gedichte der Tradition, gerade auch die größten und schönsten, haben oft auch etwas Totalitäres, weil sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln Bilder entwerfen, in deren Suggestivität man sich lesend nur ganz oder gar nicht hineinbegeben kann.
Julian Schutting tritt in seinen Konjunktiven und Fragen in einen Dialog mit Figuren, Wörtern, Sätzen und Bildern, der auch den Leser, die Leserin mit involviert, auch wenn das Gedicht Interpretationen (im Band Flugblätter) mit dem Satz beginnt: „jedes Gedicht ist an sich selbst gerichtet“
jedes Gedicht ist an sich selbst
gerichtet ein Gedicht ist gemacht (aber mehr entdeckt als erfunden)
Mit diesem Gedichtanfang signali- siert Julian Schutting auch, dass er sich oft auf Vorgefundenes bezieht, auf vorgefundenes Sprachund Bildmaterial. Das gerade macht die Schärfe und die Haltbarkeit seiner politischen Gedichte aus, dass sie vorgefundene Schemata, Formeln und Floskeln montieren, verändern, bis zur Unkenntlichkeit verfremden und so das, was sich dahinter verbirgt, zur Kenntlichkeit entstellen.
In einem meiner Lieblingsgedichte, Bittbriefe an Allmächtige, hat er das Vokabular und die Phraseologie politischer Manifeste mit denjenigen landläufiger Gebete kombiniert. Die Arbeit mit den angesparten Sprachvorräten, der Griff ins „Phrasenschwein“, wird zum Beginn überraschender Erkenntnisprozesse.
Zahlreich sind die Gedichte Schuttings, in denen er mit vorgefundenen Bildkonstellationen in Dialog tritt – mit Bildern der künstlerischen Tradition, aber auch im Alltag entdeckt er Bilder, die zum Zündfunken werden für ein Gedicht. Selbst das intimste und existenziellste Thema, die Zentralachse der Lyrik wie auch der Prosa Schuttings, der Komplex Liebe, bezieht sich auf Vorgefundenes, und schon die Gedichttitel des Bandes Liebesgedichte signalisieren es: Worte, Wörter, Dinge und Wörter, um nur drei von ihnen zu nennen; ein Gedicht dieses Buches entwickelt in Litaneiform aus gängigen Blumennamen Anrufungen der Geliebten, ein anderes, Kinsey-Report überschrieben, kombiniert sexualwissenschaftliches Vokabular mit Engeln und Elementen christlicher Mystik.
Schuttings Syntax, die kreative Verbindung der Bruchstellen aller Sprach- und Bild-Fundstücke, macht es schwer, aus seinen Gedichten zu zitieren. Aber man soll ja auch Gedichte als Ganze lesen und nicht nur schöne Stellen konsumieren. Doch zur Liebesthematik, die bis in die Buchtitel hinein für so viele Gedichte und Prosaarbeiten Schuttings konstitutiv ist, möchte ich doch einige Zeilen aus dem Zusammenhang reißen, die ich mir vor Jahrzehnten im Gedicht Florenz bei der ersten Lektüre des Bandes Traumreden angestrichen habe:
denn Liebe ist, was im Schlafen
wachbleibt und jeden Morgen neu erwacht, wie Schmerzen in Wellen kommt, aber anders als
Schmerzen aber anders als Schmerzen nie geht
Gerade die letzte Verszeile macht deutlich, dass Schutting hier eine Liebeserfahrung im Blick hat, die Ich und Du, die Verbindung zweier Menschen überschreitet. Denn von der Erfahrung, dass die Liebe zwischen zwei Menschen geht, vergeht, ist gerade Schuttings Lyrik und Prosa voll. Und davon, dass Wörter, Sätze und Dinge bleiben:
was immer geschehen wird – in diesen zwei Tauben, abgestellt
am Straßenrand, werden wir beisammen bleiben
beginnt der Band Liebesgedichte. Und gerade so wird das Fester geöffnet für die fundamentale Tatsache, dass die Verbindung eines Dinges, eins Bildes und, ja, gerade auch eines Wortes mit seiner Bedeutung fragil ist, konventionell und daher der Veränderung unterworfen.
Viel ist hier eingeflossen von der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins, der in seinen Philosophischen Untersuchungen eben das gezeigt hat: dass die Bedeutung eines Wortes in etwa zusammenfällt mit seinem Gebrauch in sehr komplexen Sprachspielen und dass das Benennen der Dinge nicht den sakralen Urgrund der Sprache darstellt. Im Gedicht Bilder, am Schluss des Bandes Das Eisherz sprengen, hat Schutting das in Bezug auf Kunstwerke besonders klar zum Ausdruck gebracht:
Kunstwerke, nicht durch täuschende Ähnlichkeit wollen sie wiederbeleben den Kinderglauben der Wilden an die Kontinuität von Abgebildetem und Bild, geben vielmehr den Dingen ihre
Fremdheit zurück, gegen die uns vertraulicher Umgang blind gemacht hat
Den Dingen, den Wörtern und Sätzen, den Bildern ihre Fremdheit zurückgeben – das ist eine der immer neu produktiv werdenden Leistungen der Poesie von Julian Schutting. Schutting zu lesen und mit dem Kopf an diese Fremdheit anzustoßen ist in einer Zeit der Pseudovertraulichkeit im sozialen Umgang, des scheinbar totalen Offenlegens von Biografie und Privatleben in den sozialen Netzwerken und der Entwertung realer Orte, Geschehnisse und auch Begegnungen mit Menschen durch virtuelle Nähe von allem und jedem ein großer Gewinn.
Es handelt sich bei diesem Text um die gekürzte Fassung der Laudatio, die Cornelius Hell anlässlich der Verleihung des Gert-Jonke-Preises 2015 an Julian Schutting hielt.
Hinweis: Am 19. und 20. Februar (jeweils 20 Uhr) findet im Unabhängigen Literaturhaus NÖ, Steiner Landstraße 3, 3500 Krems eine zweitägige Julian-SchuttingPersonale satt, bei der Freunde und Kennerinnen des umfangreichen Werks von Julian Schutting aus Texten lesen und mit dem Autor Gespräche führen.
ulnoe.at
Wo immer man zu lesen anfängt in diesem Buch vom Lesen, es ergeben sich sofort vielfältige höchst persönliche und doch uns alle angehende Verbindungen. Handke schreibt zum Beispiel über Valentin Hausers Buch Greutschach. Ein Bergdorf erzählt, und sofort stellen sich Erinnerungen ein zur Herkunftswelt des Autors – und zu unser aller Kindheit, auch in dem Sinn, dass man etwas nie kennengelernt hat und sich doch daran erinnern kann.
Genauso lässt Handke in einem anderen „Begleitschreiben“eine andere Erinnerung an einen geschichtlichen Landschaftsraum aufleuchten, utopisch in den schönsten Farben. Handke erzählt dort eine „Zusammenkunft von drei Schreibern“, Dimitri T. Analis, Adonis und er selber, „einer syrisch-arabisch, einer griechischfranzösisch, der dritte österreichisch-slawisch, in einem libanesischen Restaurant im 15. Pariser Arrondissement, es ist das bevölkerungsreichste „und auch völkervielfältigste der ganzen Stadt.“
Der eine, der österreichisch-slawische Autor, hört den Gesprächen der beiden anderen zu und verspricht ihnen, wenn sie dieses Gespräch in eine Korrespondenz verwandeln, es zu übersetzen.
„Gesagt, geschrieben, übersetzt (ein bisschen spät).“Und dann blendet er eine utopische Erinnerung ein, eine der vielen wunderbaren Stellen in den mehr als dreißig – die Rundfunkbeiträge für die Bücherecke in Radio Steiermark nicht mitgezählt – Erzählungen vom Lesen und vom Entziffern der Welt in den Werken der Kunst, ein Wachtraum vom malerischen Werk Picassos, der fast einzig und allein mit der Nennung von geografischen Namen auskommt: Einmal habe ihm ein Malerfreund, „inzwischen lange tot“, von Picasso gesagt, in dessen Malerei „seien noch einmal sämtliche Küsten des Mittelmeers aufgeflammt, von Haifa über Aleppo, von Kappadokien über Athen und den Peloponnes, von Marseille über Barcelona und Valencia, von der Enge von Gibraltar bis Marokko, Algier, Tripolis und Alexandria.“
Kunst im Alltag
Und Handke fügt dieser Aufzählung hinzu, dass er „im Lesen als Übersetzer“dachte, auch in der Korrespondenz zwischen Dimitri T. Analis und Adonis „leuchteten die Mittelmeergestade im Kreise noch einmal auf, wenn auch auf eine andere – zage und zugleich ‚panische‘ Weise.“
„Begleitschreiben“nennt Handke die unter dem Titel Tage und Werke zusammengestellten Voroder Nachworte zu Büchern und die Rezensionen, Reden, Zeitungsartikel, Radiobeiträge und Betrachtungen zu Werken der bildenden Kunst.
So verschieden der mediale Kontext ihres Erscheinens war und so weit die Erscheinungsjahre auseinanderliegen, diese „Begleitschreiben“sind miteinander verbunden durch verwandte, einander ergänzende Denkmotive und vor allem durch ein erzählerisches Element, welches die beschriebenen Werke im Alltag verankert, ihnen eine Geschichte gibt und freundschaftlich das persönliche Ich in den Werken mitdenkt und würdigt.
Und wir als Leser werden hineingenommen in eine seltene Aufmerksamkeit für Bücher und Kunstwerke, in welcher die Idee von Literatur spürbar wird: dass nämlich Lesen und Schreiben heute eine nur umso dringender gebrauchte Form der Weltentdeckung sind, weil das Bild der Welt nur immer noch mehr von „der“Wirtschaft, „den“Militärs und „den“Medien bestimmt wird.
Handkes Titelwort Tage und Werke weist als umgestelltes Zitat auf Hesiods Werke und Tage zurück, ein griechisches Lehrgedicht, um 700 vor Christi Geburt entstanden, das in seinen Hexametern das Tagwerk und die Arbeitsrhythmen des Jahres in einer kleinbäuerlichen archaischen Welt beschreibt. Sie wird unter das Gesetz und die Ethik der friedlichen kultivierenden Arbeit gestellt – eine solidarische, dörfliche Gegenwelt zur aristokratischheroischen Kriegskultur in den homerischen Epen.
Wenn Handke in seinem Buchtitel das Wort „Tage“an den Beginn setzt, erinnert er an sein Selbstverständnis als literarischer Chronist, der er mit seinen beständig geführten Notizbüchern ja auch ist, und das Wort „Werke“lässt uns an sein mehr als 50 Jahre währendes beständiges AmWerk-Sein denken, ein Schreiben, das von Beginn an den Zusammenhalt mit dem Alltag und mit dem Tagewerk der vielen von der Literaturwelt ausgeschlossenen Menschen sucht.
Wie ein Aufschrei klingt in einem seiner Tagebücher ( Das Gewicht der Welt, 12. Dezember 1978) die Frage, an die er sein Recht zum Schreiben knüpft: „Warum eigentlich sollte nicht jeder seine Meisterwerke nötig haben“. Alle die bunt zusammengewürfelten „Begleitschreiben“in Tage und Werke erscheinen in ihrem Neben- und Nacheinander so zusammengehörig und genau an ihrem Platz notwendig, als gehörten das Würfeln und die Buntheit zur Kunst, so wie „Verknüpfen und Unverknüpftlassen“das Schreiben ausmachen, und letztlich auch die Lebenskunst, wenn Identität nicht zur Erstarrung führen soll.
Peter Handke, „Tage und Werke. Begleitschreiben.“€ 23,60 / 287 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2016
Hinweis: Am 19. 2. (20 Uhr) lesen Philipp Hauß, Sylvie Rohrer, Dörte Lyssewski, Peter Simonischek u. a. im Wiener Burgtheater aus dem besprochenen Band. www.burgtheater.at