Unruhe vor Experimentbeginn in Liesing
Die Unterbringung von 750 Asylwerbern in Wien-Liesing lässt Wogen hochgehen. Viele Anrainer fürchten sexuelle Übergriffe und fühlen sich belogen. Die Lokalpolitiker versuchen – fast geschlossen – zu beruhigen. Antworten auf alle Fragen hat niemand.
Wien – Die Flüchtlingsfrage spaltet Familien, Freundeskreise, genauso Bezirke und Gemeinden. Ein guter Eindruck davon lässt sich derzeit in Wien-Liesing gewinnen. Im Heimatbezirk von Kanzler Werner Faymann im Süden Wiens wird Anfang März ein Großquartier für 750 Asylwerber eröffnet. Das Projekt weckt starke Emotionen und sorgte am Wochenende für einen Schlagabtausch zwischen SPÖ und FPÖ.
Stein des Anstoßes war am Freitagabend eine Bürgerversammlung im Bezirk. Rund 600 Menschen nahmen daran teil. Die FPÖ sprach am Samstag davon, dass die Liesinger bei dem Treffen ihren „Zorn“und ihre volle Ablehnung der Flüchtlingsunterkunft artikuliert hätten. Dem „hilf- und fassungslosen“Bezirksvorsteher Gerald Bischof (SPÖ) sei nicht mehr eingefallen, als „besorgte Blicke“zu den anwesenden Poli- zisten im Saal zu werfen. Die SPÖ sah die Sache anders.
Die Verantwortlichen hätten die berechtigten Fragen zum Projekt beantwortet, Missverständnisse ausgeräumt. Die FPÖ solle die Bürger nicht gegeneinander aufhetzen. Wer also hat recht? Man könnte sagen: beide.
Die erste Hälfte des Bürgertreffens drohte tatsächlich ins Chaos abzugleiten. Thema Nummer eins unter den Zuhörern war die Angst vor Übergriffen und Vergewaltigungen. „Was mache ich, wenn ich rausgehe, und einer von denen drückt mich nieder und der andere vergewaltigt mich?“, wollte eine Dame im mittleren Alter wissen. Alle, die kommen, seien „Hormonbomben“, sagte ein Zuhörer. „Wen kann ich verklagen, wenn meine Tochter oder ich überfallen werden?“, fragte ein Frau.
Den Verantwortlichen in der Politik und der Polizei schlug viel Misstrauen entgegen. Das bekamen besonders der Liesinger Polizei-Stadthauptmann Walter Czapek und der Wiener Flüchtlingskoordinator Peter Hacker zu spüren. Beide wurden von Buhrufen und Gejohle unterbrochen.
Dabei zeigt sich, wie schwer es für die Behörden ist, den Vorwurf, man belüge die Menschen ständig, zu entkräften. Ein Mann etwa stand auf und meinte, Wien habe nicht, wie Hacker sagt, 20.000 Flüchtlinge aufgenommen, sondern hunderttausende. Hacker blieb nicht viel mehr übrig, als verdutzt dreinzuschauen.
Hunderttausende in Wien
Demgegenüber warben einige Zuhörer für Empathie. Die Flüchtlinge seien gute Menschen und keine Verbrecher, sagte eine Frau. Die Stimmung blieb aufgeheizt.
Allerdings beruhigte sich mit der Dauer der Debatte das Klima etwas. Einen Beitrag dazu leisteten die Liesinger Parteien. Bundespolitisch mag noch so viel von Streitereien die Rede sein. Beim Bürgertreff zeigten sich mit Ausnahme der FPÖ die Vertreter von Grünen, ÖVP, Neos und SPÖ geeint. Sie versuchten zu kalmieren – Tenor: Es werde nicht leicht, die Flüchtlinge aufzunehmen, aber „je mehr Emotionen wir hier aufbauen, umso schwerer wird es“, wie es der ÖVP-Klubobmann im Bezirk, Ernst Paleta, formulierte.
Auf diese Geschlossenheit folgten sachlichere Fragen. Zu Wort meldeten sich Menschen, die nicht per se gegen ein Flüchtlingsheim sind, sich aber fragen, wie das alles funktionieren soll. Die gesellschaftliche Mitte blitzte auf. Wo etwa gehen die Kinder in die Schule, was geschieht mit den Immobilienpreisen im Bezirk, wie will die Polizei den Menschen die Furcht vor Kriminalität nehmen?
Dabei besteht kein Zweifel, dass das Liesinger Projekt ein Experiment ist. Denn viele Fragen lassen sich heute kaum realistisch beantworten. Samariterbund und Johanniter werden die Unterkunft am Rande eines Industriegebietes betreuen. Sie versprechen, viele Familien in dem alten Bürogebäude unterzubringen. Schulpflichtige Kinder sollen im ersten Jahr direkt vor Ort in eigenen Klassen unterrichtet werden. Und dann?
Hacker sagt, das Quartier werde im März 2017 wieder geschlossen – aber die Kinder verschwinden deshalb nicht. In einem Nebensatz sagte Hacker, dass im Bezirk weitere Unterkünfte notwendig werden. Am Dienstag findet eine weitere Bürgerversammlung statt.