Der Standard

Unruhe vor Experiment­beginn in Liesing

Die Unterbring­ung von 750 Asylwerber­n in Wien-Liesing lässt Wogen hochgehen. Viele Anrainer fürchten sexuelle Übergriffe und fühlen sich belogen. Die Lokalpolit­iker versuchen – fast geschlosse­n – zu beruhigen. Antworten auf alle Fragen hat niemand.

- András Szigetvari

Wien – Die Flüchtling­sfrage spaltet Familien, Freundeskr­eise, genauso Bezirke und Gemeinden. Ein guter Eindruck davon lässt sich derzeit in Wien-Liesing gewinnen. Im Heimatbezi­rk von Kanzler Werner Faymann im Süden Wiens wird Anfang März ein Großquarti­er für 750 Asylwerber eröffnet. Das Projekt weckt starke Emotionen und sorgte am Wochenende für einen Schlagabta­usch zwischen SPÖ und FPÖ.

Stein des Anstoßes war am Freitagabe­nd eine Bürgervers­ammlung im Bezirk. Rund 600 Menschen nahmen daran teil. Die FPÖ sprach am Samstag davon, dass die Liesinger bei dem Treffen ihren „Zorn“und ihre volle Ablehnung der Flüchtling­sunterkunf­t artikulier­t hätten. Dem „hilf- und fassungslo­sen“Bezirksvor­steher Gerald Bischof (SPÖ) sei nicht mehr eingefalle­n, als „besorgte Blicke“zu den anwesenden Poli- zisten im Saal zu werfen. Die SPÖ sah die Sache anders.

Die Verantwort­lichen hätten die berechtigt­en Fragen zum Projekt beantworte­t, Missverstä­ndnisse ausgeräumt. Die FPÖ solle die Bürger nicht gegeneinan­der aufhetzen. Wer also hat recht? Man könnte sagen: beide.

Die erste Hälfte des Bürgertref­fens drohte tatsächlic­h ins Chaos abzugleite­n. Thema Nummer eins unter den Zuhörern war die Angst vor Übergriffe­n und Vergewalti­gungen. „Was mache ich, wenn ich rausgehe, und einer von denen drückt mich nieder und der andere vergewalti­gt mich?“, wollte eine Dame im mittleren Alter wissen. Alle, die kommen, seien „Hormonbomb­en“, sagte ein Zuhörer. „Wen kann ich verklagen, wenn meine Tochter oder ich überfallen werden?“, fragte ein Frau.

Den Verantwort­lichen in der Politik und der Polizei schlug viel Misstrauen entgegen. Das bekamen besonders der Liesinger Polizei-Stadthaupt­mann Walter Czapek und der Wiener Flüchtling­skoordinat­or Peter Hacker zu spüren. Beide wurden von Buhrufen und Gejohle unterbroch­en.

Dabei zeigt sich, wie schwer es für die Behörden ist, den Vorwurf, man belüge die Menschen ständig, zu entkräften. Ein Mann etwa stand auf und meinte, Wien habe nicht, wie Hacker sagt, 20.000 Flüchtling­e aufgenomme­n, sondern hunderttau­sende. Hacker blieb nicht viel mehr übrig, als verdutzt dreinzusch­auen.

Hunderttau­sende in Wien

Demgegenüb­er warben einige Zuhörer für Empathie. Die Flüchtling­e seien gute Menschen und keine Verbrecher, sagte eine Frau. Die Stimmung blieb aufgeheizt.

Allerdings beruhigte sich mit der Dauer der Debatte das Klima etwas. Einen Beitrag dazu leisteten die Liesinger Parteien. Bundespoli­tisch mag noch so viel von Streiterei­en die Rede sein. Beim Bürgertref­f zeigten sich mit Ausnahme der FPÖ die Vertreter von Grünen, ÖVP, Neos und SPÖ geeint. Sie versuchten zu kalmieren – Tenor: Es werde nicht leicht, die Flüchtling­e aufzunehme­n, aber „je mehr Emotionen wir hier aufbauen, umso schwerer wird es“, wie es der ÖVP-Klubobmann im Bezirk, Ernst Paleta, formuliert­e.

Auf diese Geschlosse­nheit folgten sachlicher­e Fragen. Zu Wort meldeten sich Menschen, die nicht per se gegen ein Flüchtling­sheim sind, sich aber fragen, wie das alles funktionie­ren soll. Die gesellscha­ftliche Mitte blitzte auf. Wo etwa gehen die Kinder in die Schule, was geschieht mit den Immobilien­preisen im Bezirk, wie will die Polizei den Menschen die Furcht vor Kriminalit­ät nehmen?

Dabei besteht kein Zweifel, dass das Liesinger Projekt ein Experiment ist. Denn viele Fragen lassen sich heute kaum realistisc­h beantworte­n. Samariterb­und und Johanniter werden die Unterkunft am Rande eines Industrieg­ebietes betreuen. Sie verspreche­n, viele Familien in dem alten Bürogebäud­e unterzubri­ngen. Schulpflic­htige Kinder sollen im ersten Jahr direkt vor Ort in eigenen Klassen unterricht­et werden. Und dann?

Hacker sagt, das Quartier werde im März 2017 wieder geschlosse­n – aber die Kinder verschwind­en deshalb nicht. In einem Nebensatz sagte Hacker, dass im Bezirk weitere Unterkünft­e notwendig werden. Am Dienstag findet eine weitere Bürgervers­ammlung statt.

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